YOUR VOTE: Unser Wahlsystem
Andi Bichler ist studierter Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD. Er kennt sich in unserem Freundeskreis wohl wie kein anderer in Sachen Politik aus – und kann auch noch schreiben. Für uns ein Jackpot, denn er erklärt uns bis zur Bundestagswahl am 24. September 2017 alles wichtige rund um die Wahl, die wichtigen Themen der einzelnen Parteien sowie unser Wahlsystem.
Zum ersten Mal in meinem politischen Leben muss ich keine Wahlplakate kleben! Wahlplakatekleben ist eine der Aufgaben, die man neuen, übermotivierten und naiven Parteimitgliedern gibt, um sie zu brechen und aus ihnen gehorsame Parteisoldaten* zu machen. Bitte nicht falsch verstehen, Parteiarbeit ist oft wirklich spannend, aber: Ich hasse Plakate kleben! Vor allem, weil irgendein grausames Naturgesetz es immer dann regnen/schneien/hageln lässt, wenn ich durch die Gegend fahre und: genau, Plakate klebe!
Weil aber zur Zeit sehr viele Jung-Parteisoldaten viel fleißiger sind als ich, lachen einem an jeder Straßenecke freundliche Politikergesichter entgegen. Da sind zum einen die Politik-VIPs, also Angela Merkel, Martin Schulz – oder der attraktive, unverbrauchte Herr Lindner von dieser neuen Partei mit den modernen, magenta-gelben Plakaten (FDP, glaube ich). Daneben hängen meist eher unbekannte, gezwungen lächelnde Menschen, in mehr oder weniger gut sitzenden, mehr oder weniger farblich abgestimmten Kleidungsstücken, mit definitiv weniger guten Grafikdesignern.
Wen oder was – und vor allem wie – wählen wir eigentlich am 24. September?
Was mich zum Thema bringt: Wen oder was – und vor allem wie – wählen wir eigentlich am 24. September? Eigentlich entscheide ich doch, ob ich mich die nächsten vier Jahre von Martin oder Angela regieren lasse. Was interessieren mich dann also die anderen Köpfe?
Dazu vorab: Wir wählen nicht unseren neuen Kanzler bzw. unsere alte Kanzlerin, sondern die Abgeordneten des deutschen Parlaments, also des Bundestages. Und die wählen dann wiederum unseren neuen Kanzler bzw. unsere alte Kanzlerin. Dass das so ist, hat etwas mit Gewaltenteilung zu tun und damit, dass wir nicht wie die USA eine Regierung (Trump und Co.) und ein Parlament (Kongress) haben, die vollständig voneinander getrennt sind, und… egal, Politikseminare braucht hier gerade niemand.
Damit also Martin oder Angela Bundeskanzler*in werden können, brauchen ihre Parteien genug Abgeordnete im Bundestag und entsprechend viele Wählerstimmen. Ein einfaches Beispiel zu diesem Zusammenhang: Bekommt die SPD ein Viertel aller in ganz Deutschland abgegebenen Stimmen, dann steht ihr auch ungefähr ein Viertel der Sitze im Bundestag zu.
Wir haben bei der Bundestagswahl zwei Stimmen, nämlich Erst- und Zweitstimme
In diesem Fall wäre Wählen leicht: Jeder hat eine Stimme und kreuzt auf dem Wahlzettel eine Partei an, die auf dieser Grundlage Sitze bekommt. Wäre aber langweilig. Also haben die Wähler bei der Bundestagswahl zwei Stimmen, nämlich Erst- und Zweitstimme (originell, ich weiß). Das macht die Sache ein bisschen komplizierter.
Als Wähler möchte ich erreichen, dass meine Lieblingspartei ein möglichst großes Stück vom Bundestagskuchen abbekommt und die Regierung bilden kann. Und hier wird’s wichtig: Für die Zusammensetzung des Bundestages ist nur die Zweitstimme, die ich direkt meiner Lieblingspartei gebe, entscheidend. Denn nur diese Stimmen werden am Ende zusammengezählt und nach ihrem Verhältnis erhalten die Parteien Sitze im Bundestag. Deshalb ist auf Wahlplakaten oft zu lesen: „Zweitstimme ist Merkelstimme“ – was suggeriert, dass man mit dieser Stimme entscheiden kann, wer Kanzler*in wird. Stimmt aber eben nur halb: Die Zweitstimme ist die Stimme für eine Partei, die so Parlamentssitze erhält und dann Merkel zur Kanzlerin wählen kann. Logisch, oder?
Die Erststimme und die unbekannten Plakatgesichter
Das bringt mich zurück zu den unbekannten Plakatgesichtern: Diese Leute wollen in der Regel nicht Kanzler*in werden, sondern als Abgeordnete ihres Wahlkreises (davon gibt es beispielsweise in München vier, in ganz Deutschland 299) in den Bundestag einziehen. Sie werden mit der Erststimme gewählt: Wer im Wahlkreis die meisten dieser Stimmen bekommt, landet direkt im Bundestag. Die restlichen Parlamentssitze werden dann über die Listen der Parteien vergeben, damit man am Ende wieder auf das Zweitstimmenverhältnis kommt.
Für die Mehrheiten im Parlament hat die Erststimme also quasi keine Bedeutung. Was mir als Wähler einige Möglichkeiten eröffnet: Wenn ich die Kandidatin der FDP in meinem Wahlkreis eigentlich ganz sympathisch finde, aber die FDP nie mehr an der Regierung haben möchte, kann ich der Kandidatin trotzdem guten Gewissens meine Erststimme geben und mit der Zweitstimme eine Partei wählen, deren Programm mir eher entspricht und die regieren soll.
Die Zweitstimme ist die wichtigere Stimme, denn sie entscheidet, wer am Ende regiert
Für den 24. September also bitte merken: Die Zweitstimme ist die wichtigere Stimme, denn sie entscheidet, wer am Ende regiert. Und ganz allgemein: Wählen ist nicht schwer, also tut es bitte auch. Und wenn nicht: Komme mir danach niemand jammernd an über Trump, Brexit oder AfD!
* Ich bin ein großer Fan genderneutraler Sprache, möchte diesen Artikel aber nicht noch komplizierter machen und werde daher ab und zu auf Genderstars verzichten. Fühlt euch bitte trotzdem angesprochen, gleich welchen Geschlechts ihr seid oder nicht!
4 Antworten zu “YOUR VOTE: Unser Wahlsystem”
Spannend ist für mich als Wählerin vor allem die Frage, ob ich in meiner Überlegung nur zwischen den beiden üblichen Verdächtigen abwäge (hallo Realität), oder ob ich, quasi zeichensetzend meine Zweitstimme an die Partei vergebe, die ich am liebsten regieren sehen würde.
Help, anyone?
als Mitglied einer kleineren Partei (die mit dem Linder ;-)) möchte ich dir gerne folgenden Hinweis geben:
du hast die Wahl, wenn du keine der beiden Volksparteien, CDU und SPD, wählen möchtest, aber die Position einer anderen Partei stärken willst, stimm für sie.
Möchtest du z.B. die Position der Grünen oder der FDP in einer potentiellen Regierungskoalition gestärkt sehen, geb der entsprechenden Partei deine Stimme. – Die geht nicht verloren.
Eine Einparteienregierung werden wir nicht erleben, von daher ist es auch immer wichtig, an mögliche Koalitionen zu denken. Jede Stimme stärkt die Politik der Partei, der du am nächsten stehst.
Bei Erststimmen ist es leider meistens so, dass traditionell sich die Volksparteien die Direktmandate sichern. Wobei es Ausnahmen gibt, Hans-Christian Ströbele in Berlin z.B.
„Mitglied der SPD“ und „…kennt sich […] in Sachen Politik aus“ – Schließt das eine das andere nicht aus?
Natürlich kann man die Parteimitgliedschaft von Menschen hinterfragen und kritisieren (gerade die SPD hat dafür in den letzten Jahren einen ganzen Haufen Gründe geliefert – glaub mir, ich hinterfrage mich fast täglich, wenn ich in die News schaue..).
Was sich mir nicht erschließt, ist der Zusammenhang zwischen „Politische Überzeugungen haben“ und „sich fachlich gut mit Politik im Allgemeinen auskennen (losgelöst von speziellen Thematiken)“:
Nicht jeder Politologe hat Ahnung von guter Politik oder selbst parteipolitische Überzeugungen, nicht jedes der ca. 400.000 SPD-Mitglieder hat vertieftes Wissen über politische Zusammenhänge.