YOUR VOTE: Außen- und Europapolitik
Text: Andreas Bichler
Die Politik in Großbritannien übt momentan eine irgendwie perverse Faszination aus: Selten hat man eine Regierung in ihr Verderben dilettieren sehen wie Theresa May, Boris Johnson und andere beim Brexit. Vielleicht verkennen diejenigen, die einem Austritt aus der EU zustimmen (ja, auch die AfD), dass es, wenn es um die europäische Integration geht, kein Zurück ohne katastrophale politische, wirtschaftliche und soziale Folgen mehr geben kann. Ist die europäische Einigung damit quasi irreversibel, die EU too big to fail geworden? Wohl nicht, wenn man an Finanzmarkt-, Euro-, Griechenland-, Flüchtlingskrise denkt.
Wohin soll dieses Gebilde Europa steuern?
Wenn aber klar ist, dass eigentlich kein erstrebenswerter Weg an einer tieferen europäischen Zusammenarbeit vorbei führt, sollten wir uns schleunigst überlegen, wohin dieses Gebilde Europa steuern soll. Ohne Zweifel ist die EU ein einmaliges Friedensprojekt – dieser Nimbus allein wird aber nicht ausreichen, unterschiedlichste Staaten mit unzähligen Regionen, Volksgruppen, Sprachen dauerhaft zusammenzubinden. Und ja, auch die Vorteile des European Way of Life, also grenzenloses Reisen, Studieren, Arbeiten, Wirtschaften, Leben (danke, liebe Grüne, für die prägnante Zusammenfassung), die wir täglich genießen, sind nicht genug.
Fakt ist, dass Europa sich zwar irgendwie in Richtung Staatlichkeit entwickelt, aber gerade noch kein demokratischer „Superstaat“ ist. Wem es noch nicht aufgefallen ist: Die Regierungen der Mitgliedsstaaten der EU – allen voran die deutsche – haben heute so viel Einfluss wie lange nicht. Umso wichtiger ist also im aktuellen Wahlkampf die Frage: Wer will was für Europa?
Angela Merkel wünscht sich ein starkes, selbstbewusstes, dynamisches Europa, das seine Interessen selbst wahrt und international mehr Verantwortung übernehmen kann.
Ich mache mir keine Illusion: Vieles von dem, was die Parteien zu Europa fordern, wird niemals den Weg in konkrete Politik finden. Dafür ist Außen- und Europapolitik zu komplex und regellos, dafür spielen zu viele Akteure auf unterschiedlichsten Ebenen eine Rolle. Trotzdem haben gerade die Parteien, die in Deutschland, dem größten und mächtigsten Mitgliedsstaat der EU, potenziell mitregieren, die Chance, Europas Entwicklung zu gestalten.
Angela Merkel hat für die Union bereits deutlich gemacht, sie wünsche sich ein starkes, selbstbewusstes, dynamisches Europa, das seine Interessen selbst wahrt und international mehr Verantwortung übernehmen kann. Was für die Union zunächst bedeutet, die europäischen Außengrenzen gegen „illegale Migration“ zu schützen, zum Beispiel durch Flüchtlingsabkommen a la Türkei mit anderen Mittelmehranrainern. Bis dies gelinge, blieben die Grenzkontrollen erhalten – ade, entspannte Rückreise aus der Toskana! Auch FDP und SPD wollen den effektiven Schutz der Außengrenzen – wobei ich mir gerade von meiner Partei gewünscht hätte, dass sie etwas deutlicher ausspricht, wer denn nun „illegal“ die europäischen Grenzen überschreitet.
FDP und Grüne fordern ein Exportverbot für Krisenregionen, die Linke möchte Waffenexporte gleich vollständig verbieten
Für Union, SPD, FDP und Grüne gehört zur Stärkung der EU auch eine intensivere Zusammenarbeit bei der Verteidigung. Union und FDP halten dafür eine drastische Erhöhung der Verteidigungsausgaben für geboten, Grüne, Linke und SPD lehnen dies kategorisch ab. Die SPD kanalisiert Willy Brandt, fordert eine neue Abrüstungsinitiative und lobt sich für die transparenteste und restriktivste Rüstungsexportpolitik aller Zeiten. Was allerdings von den Oppositionsparteien leicht zu überbieten ist: FDP und Grüne fordern ein Exportverbot für Krisenregionen, die Linke möchte Waffenexporte gleich vollständig verbieten, die Rüstungsindustrie transformieren, alle Soldaten aus Auslandseinsätzen abziehen, die Bundeswehr schrittweise abrüsten und die NATO auflösen. Wer realistische sicherheitspolitische Ideen anbietet, kann diesem Pazifismus-Exzess kaum etwas entgegensetzen.
SPD, Grüne und FDP fordern, dass sich die Eu auf wesentliche Punkte konzentrieren sollte, die die Staaten allein nicht mehr lösen können – und dabei viel transparenter und demokratischer werden muss
Wenn also klassisch nationalstaatliche Zuständigkeiten wie Verteidigungs- und Sicherheitspolitik europäisiert werden, wäre ein wenig mehr demokratische Kontrolle auf europäischer Ebene von Vorteil. Der europäische Parlamentarismus mag an Kraft gewonnen haben, zentrale Entscheidungen werden allerdings nach wie vor von den Regierungen der Mitgliedsstaaten getroffen. Die konkretesten Vorschläge für eine institutionelle Stärkung des europäischen Parlaments bringt die SPD, was wenig überraschend ist, wenn man den ehemaligen Präsidenten dieses Parlaments ins Rennen um die Kanzlerschaft schickt: Budgetrecht und Mitsprache in der Wirtschafts- und Währungspolitik, das Recht, Gesetze selbst zu initiieren (das darf bisher nur die Kommission) – klingt sehr nach klassischer parlamentarischer Demokratie. Linke und Grüne sind dabei! Ganz allgemein scheinen insbesondere SPD, Grüne und FDP verstanden zu haben, dass sich die EU auf wesentliche Punkte konzentrieren sollte, die die Staaten allein nicht mehr lösen können, und dabei viel transparenter und demokratischer werden muss. Von der Union hört man dagegen eher: Weiter so, bestehende Regeln einhalten!
Was die europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik angeht, wollen gerade Union und FDP an der aus ihrer Sicht erfolgreichen Politik der letzten Jahre festhalten. Grüne und SPD setzen dagegen auf ein Ende der Sparpolitik und eine breit angelegte Investitionsoffensive, um die Wirtschaft anzukurbeln und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit zu senken. Nur die Linke fordert noch einen Schuldenerlass für Griechenland, ein „Europa der Menschen statt der Banken und Konzerne“ und konstatiert, dass die Finanzkrise in ihren Ursachen noch nicht überwunden ist. Letzteres zu recht, da zwar der weltweite Zusammenbruch der Finanzmärkte schon fast zehn Jahre her ist, die Folgen uns allerdings immer noch beschäftigen.
Viel passiert ist nicht an der Finanzmarktregulierungsfront – die Parteien sind hier sehr einsilbig
Viel passiert ist allerdings nicht an der Finanzmarktregulierungsfront. Hier sind die Parteien sehr einsilbig, mit Ausnahme der Linken und – wer hätte es gedacht – der SPD: kein Finanzprodukt ohne Regulierung, Trennung von Investment- und Geschäftsbanken, strenge Aufsicht über Hedgefonds, Einführung einer Finanzmarktsteuer zur Finanzierung europäischer Investitionen, europäische Sozialunion mit Mindeststandards bei Löhnen und Sozialleistungen! Wow, Problem erkannt, bitte umsetzen – und sei es nur, indem ihr in der nächsten großen Koalition Frau Merkel überzeugt, dass ihr diese Politik die fünfte Amtszeit sichert!
Außen- und Europapolitik sind reich an Ideen wie kaum ein anderes Politikgebiet. Leider lässt sich das meiste nur durch Verhandlung und oft schlechte Kompromisse durchsetzen, weshalb die besten Außenpolitiker wohl Utopisten und Zyniker zugleich sind. Gleichzeitig kann die Außenpolitik für viele Koalitionsoptionen zum Problem werden – zum Beispiel einige extreme Haltungen der Linken für eine mögliche rot-rot-grüne Koalition. Jede Koalitionsverhandlung dürfte gerade in diesem Bereich spannend werden – wenn es nicht wieder in die GroKo geht.
Eine Antwort zu “YOUR VOTE: Außen- und Europapolitik”
Sehr informativer und hilfreicher Beitrag!