Wieso haben wir unseren Eltern gegenüber immer ein schlechtes Gewissen?
Im Erwachsenenalter verändert sich der Blick auf unsere Eltern. Auf pubertierende Ekstasen blicken wir verschämt zurück und lassen diese schweigend ausschleichen. Dabei empfinden wir immer mehr Liebe und verstehen die Sprache unserer Eltern und die Intention hinter all ihrer Taten immer besser. Und so viel Liebe wir auch für unsere Eltern empfinden, schwingt auch oft ein eher mulmiges Gefühl mit: das Schuldgefühl. Dabei haben wir nichts verbrochen, ihnen keinen Schaden zugefügt, sondern einfach beschlossen, ein eigenes Leben zu führen. Aber was ist mit den einst wichtigsten Menschen, die uns das Fahrradfahren beigebracht haben?
Auch ich erwische mich oft dabei, mich absolut grausig und schuldig zu fühlen, wenn ich meine Mama schon zwei Wochen nicht mehr besucht habe, oder dann, als ich mit dem Gedanken spielte, 600 Kilometer weit weg ziehen. Dabei ist es keine Entscheidung gegen meine Eltern, sondern oftmals einfach für meine Zukunft und mich.
Mit der Geburt allein wird nicht gleich die Schuld zur Welt gebracht, in der wir Kinder für immer stehen. Es gibt allerdings Eltern, wie auch meine Mutter, die fast schon Übermenschliches geleistet haben, um den Kindern ein tolles Leben voller Liebe und Perspektiven zu ermöglichen. Das macht das schlechte Gewissen und das Gefühl der ewigen Schuld allerdings nur noch präsenter.
Selbst, wenn die eigenen Eltern nie eine Art Gegenleistung verlangen, für all das, was sie aufgeben oder in Kauf genommen haben, um uns Kinder großzuziehen, schwankt dennoch dieses bekannte Gefühl mit. Sie müssen es nicht immer ausdrücken oder mit einem (laut Psycholog:innen absolut unangemessen): „Ich habe alles für dich getan“ reagieren, um dieses ewige Gefühl des schlechten Gewissens in uns Kindern zu erwecken. Es ist einfach da. Eben weil wir unsere Eltern lieben – und ihnen dankbar entgegentreten möchten.
Gute Eltern verdienen gute Kinder
Philosophie Barbara Bleisch befasst sich ausgiebig mit dem Thema und hat dazu eine ganz klare Ansicht, die sie in „Psychologie Heute“ teilt: „[…] Eltern lassen sich in aller Regel aus freiem Willen auf dieses Unterfangen ein. Außerdem ist es einfach ihre Pflicht, sich um ihre Kinder zu kümmern. Kinder haben um ihre Existenz und Pflege nicht gebeten. Von einem Tauschhandel kann also nicht die Rede sein. Wenn Kinder eine glückliche Kindheit hatten, werden sie ihren Eltern vielleicht dankbar sein und sich erkenntlich zeigen wollen – dies aber aus freien Stücken.“
Das heißt also: Kinder schulden ihren Eltern nichts, nur weil sie das Nötigste geleistet haben. Einzig der Fakt, dass zwei Menschen den „Akt der Zeugung“ betrieben haben, gewährt keinen lebenslangen Freifahrtschein an Liebe und ewige Dankbarkeit. Auch Eltern müssen etwas dafür tun, dass die Kinder Liebe, Respekt, Dankbarkeit und Zuneigung zurückgeben.
Bedingungslose Liebe?
Die Liebe zwischen Eltern und Kinder ist nur einseitig bedingungslos. Eltern lieben ihre Kinder (im Idealfall) bis aufs Mark. Es gibt kaum etwas, was sie falsch machen können. Sie haben sich meist aktiv dazu entschieden, neues Leben auf die Welt zu bringen. Leben, für das sie verantwortlich sind – zumindest für viele Jahre.
Andersherum ist das allerdings nicht der Fall. Eltern müssen etwas für die Liebe, Zuneigung und Aufmerksamkeit ihrer Kinder leisten. Sie kommt nicht nur durch die Blutsverwandtschaft, Geburt oder durch das Windelwechseln zustande. Sie wird durch das erschaffen, was die Eltern ihren Kindern mitgeben.
Manchmal kann die Liebe aber zu einer Art Abhängigkeit überschwappen, die uns im Leben etwas hemmen kann. Wenn wir den inneren Drang nach einer Veränderung spüren, in einem anderen Land leben oder gar für eine lange Zeit die Welt erkunden möchten. Oder wenn wir uns gegen den Karrierewunsch unserer Eltern stellen und uns für uns selbst entscheiden. Wir denken dann, dass wir unseren Eltern unsere dauerhafte Präsenz oder die stellvertretende Erfüllung ihrer Wünsche „schulden“, weil sie sich schließlich unser ganzes Leben um uns gekümmert haben. Uns auf die Welt gebracht, genährt, angezogen und behütet habe. Und das stimmt: Für all das, was sie uns gegeben haben, gebührt unseren Eltern der aller allergrößte Respekt. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass wir nicht für immer in Abhängigkeit leben können, nur weil zwei Menschen sich eines Tages für uns entschieden haben.
Respekt für immer – nur ohne Nabelschnur
Es ist natürlich ein Unterschied, ob die Eltern von den Kindern abhängig sind, weil sie krank, alt und zerbrechlich sind oder ob sie es einfach fordern, weil sie die Kinder „schließlich auf die Welt gebracht haben“. Ich schreibe hier vielmehr von dem Gefühl, das eigene Leben nicht mit all den Facetten erleben zu können, weil Mama oder Papa dann das Gefühl haben könnten, dass sie ausgegrenzt werden oder gar abgeschrieben sind. Besonders gravierend ist es, wenn die Eltern getrennt sind und ein Teil allein lebt. Dann werden die erwachsenen Kinder gerne als Partnerersatz genutzt, die sich um alles kümmern sollen, eine emotionale stabile Schulter bieten. Und all das machen Kinder gerne – aus Liebe. Aber das ist nun mal nicht der Job der Kinder. Denn dabei bleibt das eigene Leben gerne auf der Strecke.
Dankbarkeit in der eigenen Liebessprache
Und auch, wenn es die Pflicht der Eltern ist, sich um die Kinder zu kümmern, können wir all das mit Dankbarkeit anerkennen. Das kann absolut verschieden aussehen und sich durch die ganz eigene Liebessprache der Eltern-Kind-Beziehung ausdrücken. Dankbarkeit zeigen heißt aber nicht, auch mit 30 noch durch die Nabelschnur verbunden zu sein. Es heißt vielmehr, die Eltern mit Respekt und Liebe zu behandeln und sie wissen zu lassen, wie viele sie bedeuten, ohne dabei die eigenen Träume und Wünsche abzugeben. Denn Eltern sollte es in erster Linie um das Wohlergehen ihrer eigenen Kinder gehen. Und wodurch das definiert wird, bestimmen die Eltern irgendwann nicht mehr mit.
Freiwilligkeit ist das große Wort
Ich für meinen Teil denke oft an meine zukünftigen Kinder und frage mich, wie ich mich in der Eltern-Position fühlen würde. Ob es mir das Herz brechen würde, wenn ich merke, dass ich nicht mehr die größte Rolle in ihrem Leben spiele. Denn für eine geraume Zeit tun Eltern eben genau das: Sie sind der Mittelpunkt ihrer Kinder. Und ich kann mir vorstellen, wie traurig es sein kann, wenn das nicht mehr der Fall ist. Aber ich habe hierzu eine eigene Theorie, die ich bei mir selbst im Umgang mit meinen tollen Eltern bemerkt habe, aber auch bei Freunden erkenne:
Ich denke dabei an einen Bumerang. Wenn ich meinen Kindern all das mitgebe, was für sie das Beste ist, ohne egoistisch oder egozentrisch zu agieren, und sie mit Liebe, Respekt und Zuneigung überschütte, dann bekomme ich auch eine große Menge an diesen tollen Attributen zurück. Und das kann und soll nicht mit dem aufgewogen werden, was ich ihnen mitgegeben habe. Sie stehen schließlich niemals in meiner Schuld. Ich fände es außerdem auch ziemlich schrecklich, meine Kinder emotional von mir abhängig zu machen. Oder dafür zu sorgen, dass sie mich später nur besuchen, um ihr schlechtes Gewissen rein zu waschen. Viel lieber denke ich dabei an Respekt und Liebe, die wir einander auf Augenhöhe geben. Wenn ich für meine Kinder nur das Nötigste tue, dann bekomme ich auch das nur das Nötigste zurück. Und das kann dann schon mal ein Anruf alle paar Wochen sein.
Es ist auch ein kulturelles Thema
Das Thema ist allerdings auch ein kulturelles Thema und das Lösen dieser Strukturen ist auch nicht immer ganz einfach. Ich sehe das bei einem Teil meiner Familie, der noch im Iran lebt. Da ist es kulturell bedingt absolut normal, dass ein Kind für immer zu Hause wohnen bleibt, wenn ein Elternteil verstorben ist. Das Glück der Witwe oder des Witwers liegt dann in der Hand des Kindes. Ein eigenes Leben wird demnach nicht aufgebaut. Wenn dieser Elternteil dann eines Tages auch wegbricht, ist ein eigenes Leben meist auch nicht mehr möglich.
Toxische Familienmodelle sind davon ausgeschlossen
Ebenso gibt es auch Familien, die absolut anders gestrickt sind und bei denen das Gegenübertreten auf Augenhöhe nicht möglich ist. Auch wenn ich das Wort toxisch mittlerweile so wenig wie möglich einsetzten möchte, weil es mittlerweile inflationär genutzt wird, kommt es jetzt zum Einsatz. Denn es gibt auch enorm toxische Familienmodelle. Die Familie sucht man sich nicht aus, anders als Freunde. Es ist also keine Schande, mit der Familie zu brechen, wenn diese einen schlecht behandelt, als Energievampir funktioniert und das eigene Leben zerrüttet. Auch das ist die Verantwortung im eigenen Leben.
Ein aufrichtiger Spiegel voller warmer Gefühle
Es ist also so: Die Umgangsformen spiegeln sich. Es ist ein Geben und ein Nehmen. Und im besten Fall sollte das aus tiefstem Herzen kommen, weil man es fühlt, nicht weil man es muss.
Wenn ich mich also das nächste Mal schlecht fühle, weil das Leben dazwischenkommt und ich die Regelmäßigkeit der Anrufe oder Besuche nicht einhalten kann, dann versuche ich mir all das bewusst zu machen und das schlechte Gewissen beiseitezulegen. Zu verinnerlichen, dass aufrichtige Liebe, Respekt und Dankbarkeit nicht automatisch weniger Gewicht tragen, nur weil ich mein eigenes Leben kreiere.