Wie viel zählt ein Schwarzes Leben in Deutschland?
Dieser Text von Jessica Lauren Elizabeth Taylor erschien zuerst auf Vogue.de
Jessica Lauren Elizabeth Taylor ist eine multidisziplinäre Künstlerin aus Florida und lebt in Berlin. Sie studiert Black British Literature an der Goldsmiths University of London. In „Wie viel zählt ein Schwarzes Leben in Deutschland?“ schreibt sie über Rassismus in ihrem Alltag und die Frage, wann People of Color in Deutschland endlich wirklich inkludiert werden.
„Mama, ein N****!“
Diesen Satz eines kleinen weißen Kindes aus Frantz Fanons „Black Skin, White Masks“ von 1952 habe ich mit 15 gelesen. Zu der Zeit war ich an Critical Race Theory (die Auffassung, dass Race ein soziales Konstrukt ist) nicht interessiert, auch wenn ich von einer Mutter erzogen wurde, die bewusst Bilder von Schwarzen Künstler*innen und Bücher von Schwarzen Autor*innen nach Hause brachte, um aus mir eine selbstbewusste Schwarze Frau zu machen. Meine Mutter gründete sogar den ersten Schwarzen Buchklub in Daytona Beach/Florida, der monatlich mehr als 20 Jahre lang lief. Um der überwältigenden Anzahl weißer Gesichter in Film, Fernsehen und Werbung entgegenzuwirken, ermutigte sie uns, unsere Kultur zu entdecken und zu lieben. Für mich war es aber zu viel. Ich wollte gegen alles rebellieren, das von meiner Mama abgesegnet wurde. Jedoch hat etwas mich dazu bewegt, eines dieser Bücher in die Hand zu nehmen, es zu lesen und es immer weiterzulesen.
In seiner Sammlung von Essays beschreibt Fanon die Begegnung mit einem Kind, das zum ersten Mal einen Schwarzen Mann sieht – das wollen wir zumindest vermuten. Das erschrockene Kind zeigt auf Fanon, während es sich fest an seine Mutter klammert. Fanon konzentriert sich nicht auf das Kind, sondern auf die unerwarteten Emotionen, die in ihm hochkochen, und die körperlichen Reaktionen, die er empfindet, wie Übelkeit, Zittern und Atemnot. Fanon fühlt sich von der Wahrnehmung seines eigenen Körpers entfremdet. Sein Schwarzsein wurde für ihn nur deswegen sichtbar, weil das Kind ihn darauf aufmerksam macht. Nachdem ich diese komplizierten Thesen gelesen habe, dauerte es weitere zehn Jahre, bis ich nach Berlin gezogen bin und mich damit selbst identifizieren konnte.
Als ich neu in Berlin war, hat die Freiheit mich beeindruckt. Ich habe gemerkt, dass in Berlin alle so sein konnten, wie sie sein wollten, ohne von irgendwelchen Grenzen eingeschränkt zu werden. In meiner Kindheit war ich nicht Schwarz genug für die anderen Schwarzen Kinder, aber immer noch zu anders für die weißen Kinder. Ich gehörte nie richtig dazu und befand mich eher im Niemandsland. Doch in Berlin entdeckte ich, dass Nichtzugehörigkeit die neue Zugehörigkeit war, und ich fand Verwandtschaft mit queeren Menschen und Außenseiter*innen. Leider hat es nicht lange gedauert, um herauszufinden, dass Rassismus keine Grenzen kennt – auch nicht dort, wo ich mich endlich zu Hause gefühlt habe.
„Yo, N****!“
Ich war fast zu Hause nach Feierabend, als ich sie hörte. Ich ignorierte sie zuerst, weil das Wort, das ich glaubte gehört zu haben, nicht zu den Stimmen passte, von denen es kam: eine rassistische Beleidigung von Kinderstimmen? Als ich mich meiner Wohnung näherte, sah ich eine Gruppe Kinder, die sich im Gebüsch versteckten. Einer schrie: „Yo, du bist ein N****!“ Die anderen blieben versteckt und kicherten. Ich spürte, wie mein Herz anfing zu rasen und meine Schultern begannen sich anzuspannen. Ich rief nur zurück: „Was?!“ Der Rudelführer wiederholte sich – und ich lachte. Ich schüttelte den Kopf nach hinten und lachte. Es war eine irrationale Reaktion auf eine unnatürliche Situation. Ich lachte lauter, um ihr Lachen zu übertönen. Ich sah schlecht, als ich mich umdrehte, um die Straße zu überqueren. Die Scheinwerfer verschwommen, als ich meine Tränen wegwischte. Als ich die Treppe zu meiner Wohnung hinaufgestiegen war, zitterte ich.
Ich öffnete die Tür und fiel schluchzend in die Arme meines Freundes. Heulend erzählte ich die Geschichte, ohne den Lachanfall zu erwähnen. Mein Freund lächelte sanft und hob mein Kinn, damit ich ihn ansah.
„Du verstehst es nicht. Wir meinen es nicht so.“ Wen genau meinte er mit „wir“? Er verteidigte die Jungs, die mich beleidigt hatten, und sagte, dass dieses Wort in Deutschland nicht so rassistisch aufgeladen war wie in den USA. Sogar seine Oma nutzte das Wort, und sie war bestimmt nicht rassistisch.
Ich sagte ihm, dass es keine Rolle spielte, weil ich das Wort beleidigend finde, und fragte ihn, warum die Kinder sich versteckt hätten, wenn das Wort so harmlos war. Die Brutalität bestand darin, mich als anders zu bezeichnen. Was noch beängstigender war, ist, dass diese Brutalität zeigte, wie verwurzelt diese Vorurteile waren, wenn selbst unschuldige Kinder wussten, welchen Schaden sie damit anrichten konnten.
Zu all meinen Argumenten sagte mein Freund nur: „Du bist zu empfindlich. Lass dich nicht von Kindern zum Weinen bringen.“ Plötzlich stand ich vor einer Prüfung und verlor die Kontrolle über mich selbst. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, aber ich hielt meine Arme fest am Körper, als hätte ich noch die Kraft, sie zu bewegen.
„Jes, hörst du mir zu?“
Ich beherrschte meinen Körper wieder und fand mich wieder in dem Raum, außer Atem. Ich erklärte ihm, dass man nie weiß, wie man auf eine rassistische Beleidigung reagieren wird, bis zu dem Moment, in dem es passiert. Man kann brüllen, fluchen, fliehen oder weinen. Es gibt keinen Plan. Dennoch bildete er sich ein, mir erklären zu können, wie ich mit Rassismus umzugehen habe: „Hör mal zu, bevor ich dich kennenlernte, hatte ich Rastalocken, und alle auf der Straße haben mich ‚Rasta‘ genannt, aber ich habe es nie persönlich genommen. Du darfst es nicht an dich ranlassen.“
Ich begann, mich selbst in der dritten Person wahrzunehmen, so wie Fanon es beschrieben hatte. Mir war genau bewusst, was mein Körper tat. Ich löste meine Beine und stellte meine Füße nacheinander auf den Boden. Ich zog meinen Mantel aus und legte ihn auf meinen Schoß. Ich packte den Wein aus, den ich gerade gekauft hatte. All diese Aktionen wurden langsam und methodisch durchgeführt, um keine Panik zu erregen. In meinem Kopf läuteten jedoch Alarmglocken, weil ich nirgendwohin fliehen konnte. Sowohl draußen mit den Kindern als auch drinnen mit meinem Freund befand ich mich in Gefahr. Wir haben uns letztendlich getrennt. Es war der Tod einer Beziehung durch tausend Papierschnitte, genauso wie Mikroaggressionen tödlich sein können.
In den letzten neun Jahren wurde ich so oft rassistisch beleidigt, und zwar von Bremen über Berlin nach Bayern, dass ich aufgehört habe mitzuzählen. Was mich am meisten daran beunruhigt, ist, zu wissen, dass ich nicht dazugehöre, weil ich die „andere“ bin.
„Ich fühle mich am meisten wie eine Schwarze,
wenn ich vor einen knallweißen Hintergrund geworfen werde.“
An dieses Zitat von Zora Neale Hurston musste ich immer wieder denken. Laut einer Studie der Universität Manchester aus dem Jahr 2016 über die Auswirkungen von rassistischer Diskriminierung auf die geistige und körperliche Gesundheit sind umso mehr Stresshormone im Körper zu finden, je mehr eine Person rassistisch beleidigt oder angegriffen wird. Rassismus belästigt buchstäblich das Gehirn und zerstört den Körper. Aber der Hass, der von rassistischen Beleidigungen herrührt, ist, wie ich schon zu oft erlebt habe, nur ein Rädchen im Getriebe des Rassismus. Ignoranz und nicht reflektiertes Denken sind weitere sowie die Behauptung, keine Vorurteile aufgrund der Hautfarbe zu haben. Rassismus betrifft mich, ist aber auch so viel größer. Meine Geschichte ist nicht einzigartig.
2017 veröffentlichte die Expertengruppe der Vereinten Nationen für Menschen afrikanischer Herkunft einen Bericht, in dem festgestellt wurde, dass das tägliche Leben von Menschen afrikanischer Herkunft von „negativen Stereotypen, rassistischer Gewalt und strukturellem Rassismus“ beeinflusst wird.
Dem Bericht zufolge wird rassistische Diskriminierung nicht nur in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens unterschätzt, wie beispielsweise Regierung, Justiz-, Zivil- und Bildungswesen, sondern diejenigen, die versuchen, diese schädlichen Unterschiede zu beseitigen, erleben oft selbst Widerstand. Diese Ergebnisse zeigen, dass das Leben und Wohlbefinden Schwarzer Menschen in Deutschland nicht geschätzt wird. Jedoch hat jede(r) von uns die Macht und Verantwortlichkeit, diese Lage zu ändern, indem wir über unsere eigenen Rollen im strukturellen Rassismus nachdenken, Kinder über Vorurteile aufklären oder Leute verteidigen, die rassistisch beleidigt wurden.
Heute finde ich die kognitive Dissonanz Berlins erstaunlich. Die „Multikulti-Hauptstadt“ wird bejubelt, jedoch warte ich immer noch darauf, dass alle Bürger*innen die Vielfalt dieser Stadt tatsächlich zu schätzen wissen. Was ich damit meine, ist, dass „Andersaussehende“ nicht mehr nur oberflächlich willkommen geheißen werden, sondern dass ernsthaft über Race, Privilegien und weiße Vorherrschaft gesprochen wird. Dass ein deutlicher Strukturwandel geschieht, inklusive Gesetzesreformen und Reparationen.
Dass es nicht um „Multikulti“-Vielfalt geht, sondern um tatsächliche soziale Inklusion. Dass man Menschen nicht sagt, dass sie bleiben können, sondern sie fragt, was alle tun können, damit diese Menschen sich hier auch zu Hause fühlen.
Fotocredit: Unsplash.com/thevoncomplex
Eine Antwort zu “Wie viel zählt ein Schwarzes Leben in Deutschland?”
So ist das mit den Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind und keine Rassismuserfahrungen haben. Sie sprechen POC und schwarzen Menschen Rassismuserfahrungen ab, meinen, dass sie übertreiben und begreifen nicht, dass Rassismus systemisch und strukturell in der Gesellschaft verankert sind. Damit zementieren sie den systemischen Rassismus.