Wie ich lernte, auf Alkohol zu verzichten und endlich meine Anxiety überwand
Dieser Artikel ist am 23. Oktober 2021 erschienen. Weil es gerade in der Weihnachtszeit wieder vermehrt Situationen gibt, in denen man auch vor ArbeitskollegInnen schief angeschaut wird, wenn man keinen Alkohol trinkt, der Reminder: Es ist immer in Ordnung, keinen Alkohol zu trinken. Und die Gründe gehen niemanden etwas an.
Vor 2 Monaten, 9 Tagen, 11 Stunden, 9 Minuten und 6 Sekunden hatte ich die letzte Panikattacke.
Es wären schon 5 Monate, wäre da nicht der eine Abend gewesen, an dem ich es nicht mehr ausgehalten habe und trank.
Erst einen Drink, dann schnell drei.
Dann zu viele, und am nächsten Morgen lag ich im Bett und alle Sorgen und Ängste und das enge Gefühl in der Brust und die Panik, die sich langsam anschleicht: alles war wieder da.
Ich hatte schon länger aufgehört, Alkohol zu trinken, weil meine Therapeutin mir zu verstehen gegeben hatte, dass es da vielleicht ein Muster geben könnte. Einen Zusammenhang zwischen meiner anhaltenden Nervosität, meinen Panikattacken und meinem Alkoholkonsum. Das Muster war simpel: Mir ging es schlecht. Ich war nervös und ängstlich. Dann trank ich, um mich besser zu fühlen. Nur, damit es am nächsten Tag noch schlimmer wurde.
So wie Antonia und ich leiden circa 15 Prozent der deutschen Gesellschaft an einer Angststörung oder auf Englisch: an Anxiety. Sie hat verschiedene Ausprägungen und zeigt sich beispielsweise in Nervosität, extremer Schüchternheit, Ängsten oder Panikattacken. Meine eigene Diagnose kam für mich nicht sehr überraschend. Die Symptome einer Angststörung begleiten mich schon mein ganzes Leben lang.
Ich hatte starke soziale Ängste, schon als ich noch ein Kind war. Ich war schüchtern, nicht nur ein bisschen, sondern sehr.
Ich wollte kaum mit fremden Menschen sprechen. Auch vor Menschen, die mir nahe waren, habe ich mich unwohl gefühlt. Nur mit meinen Eltern und meinem besten Freund war es anders. Ich kann die Momente, in denen ich mich als Kind wirklich glücklich und gelöst gefühlt habe, an einer Hand abzählen.
Einer war dieser: Ich war noch jung, jünger als zehn Jahre alt, und hatte bei einer Nachbarin einen vergorenen Saft getrunken. Ich war betrunken, ohne zu wissen, was das bedeutete, und ging mit meinen Eltern in ein Restaurant. Das erste Mal war ich mutig genug, um meine Bestellung selbst aufzugeben. Ich konnte scherzen, bis der ganze Tisch lachte und unterhielt das ganze Restaurant. Meine Mutter lächelt noch heute stolz, wenn sie davon erzählt. „Du warst so offen und selbstbewusst. Es war ein sehr schöner Abend.“
Wie ihr ging es mir auch, denn mit dem Alkohol hatte sich etwas verändert. Meine Unsicherheit hatte sich aufgelöst. Der Knoten in der Brust hatte sich für den Moment gelockert. Seitdem war klar: Wenn ich trinke, verschwinden meine Probleme.
Alkohol hemmt das zentrale Nervensystem. Wenn wir trinken, bremst das zwanghafte Gedanken und für den Moment werden wir mutig. Alkohol steigert die Laune und macht, dass wir uns wohler fühlen. Bis der Effekt stagniert und man weiter trinken muss, um ihn am Laufen zu halten. Ein gemeiner Trick, der dazu führt, dass ein Viertel der Menschen, die mit einer Angststörung diagnostiziert werden, im Leben schon mal alkoholabhängig waren.
So war es auch bei mir: Sobald ich als Teenager trinken konnte, startete ich eine ausgiebige Trinkkarriere. So ausgiebig, dass ich mich an das Meiste kaum erinnern kann. Ich trank und war glücklich. Ich konnte meine Sorgen und Ängste vergessen und gleichzeitig Spaß mit anderen Menschen haben.
Immer mehr, bis ich einen Filmriss hatte oder mir schlecht wurde. Ich nutze Alkohol als Kitt für alle meine Probleme. Bis er selbst zum Problem wurde.
Alkohol kann bei regelmäßigem Konsum Angststörungen verschlimmern, und genauso war es bei mir. Der Kater setzt den Körper unter Stress. Der Stoffwechsel wird beansprucht. Physische Symptome wie Herzrasen und schwitzige Hände können dem Körper einen Trigger geben, der Panik auslösen kann. Das Aufstehen fällt schwerer und man verpasst es, Verpflichtungen nachzukommen. Nehmen wir dazu noch eine gute Portion Angst um die eigene Gesundheit und Scham, weil man betrunken etwas Peinliches gemacht hat, und der Cocktail ist perfekt.
Mir ging es schlecht, und ich trank nur, damit es mir am nächsten Tag noch schlechter ging und ich wieder zur Flasche griff.
Meine Therapeutin brauchte zehn Therapiestunden, um zu erkennen, was ich in zehn Jahren nicht erkannt hatte: Mein Verhältnis zu Alkohol war tief geprägt von meiner Angststörung. Die beiden hatten eine Beziehung eingegangen, die mich jeden Abend in die Bar und jede Nacht in die Angst schickte.
Bis ich aufhörte.
2 Monate, 9 Tage, 13 Stunden, 29 Minuten und 57 Sekunden seit meinem letzten Schluck Alkohol auf einer Party, auf der ich mich so unwohl gefühlt hatte, dass ich nicht anders konnte. Mit Ausnahme von diesem Abend habe ich das letzte halben Jahr kaum getrunken. Die positiven Effekte auf meine mentale Gesundheit spüre ich jeden Tag. Ich schlafe regelmäßiger, weil ich nicht mehr viermal die Woche ausgehe.
Mein Kreislauf ist besser, ich habe mehr Energie und wache nie mit einem schlimmen Kater auf. Das Gefühl von Enge in meiner Brust ist weg. Ich kann mich konzentrieren und verliere mich nicht in Grübeleien. Mit dem Alkohol habe ich auf das verzichtet, was mir über Jahre den Arsch gerettet hat. Ich musste erst lernen, wie es sich anfühlt, Nervosität auszuhalten. Nicht zum Drink zu greifen, wenn ich mich unwohl fühle.
Ich stehe zehn Jahre später vor denselben Herausforderungen, die mich als Teenager zum Alkohol gebracht haben. Aber: Seit ich aufgehört habe zu trinken, hatte ich keine Panikattacke mehr. Der Knoten in meiner Brust, von dem ich dachte, er sei mein ständiger Begleiter, hat sich gelöst. Ich habe keine Angst mehr vor einer Party oder einer Einladung. Keine zwanghaften Gedanken und Ängste, die mich vor dem Einschlafen heimsuchen. Ich habe gelernt, dem sozialen Druck zu widersprechen und mich dafür zu entscheiden, meine Ängste nicht mehr in Alkohol zu ertränken, sondern ihnen in die Augen zu blicken.
Bisher hat es sich gelohnt. Ich war das erste Mal nüchtern auf einem Festival. Habe mich nüchtern verliebt und hatte zum ersten Mal Sex mit einer neuen Person, ohne betrunken zu sein. Ich kann mich an jeden Moment erinnern und fühle keine Angst. Klar, ich bin manchmal etwas nervös, aber das Gefühl zieht schnell vorbei. Mit jedem Tag wächst das Vertrauen in mich selbst und meine Angst und Nervosität verschwindet.
Also mache ich erst mal weiter, hoffentlich lange. Und vielleicht fange ich irgendwann auch wieder an, wenn ich es nicht mehr brauche. Bis dahin zähle ich die Sekunden, Stunden, Tage, Monate, Jahre und freue mich in jedem Moment, dass ich diesen Weg gefunden habe.
* Mit dem Trinken aufhören, ersetzt keine Therapie. Es ist auch nicht so, dass es dir auf jeden Fall besser geht, wenn du aufhörst zu trinken. Sei nicht enttäuscht, falls es nicht so ist. Falls du sehr viel trinkst: Spreche mit einem Arzt, wenn du aufhörst. Ein plötzlicher Entzug kann auch hart für den Körper sein und falls du diesen Artikel liest, weil du struggelst: Fühl dich umarmt und wende dich zum Beispiel an diese Stellen, falls du akut Hilfe brauchst:
7 Antworten zu “Wie ich lernte, auf Alkohol zu verzichten und endlich meine Anxiety überwand”
Alter Schwede, was es nicht alles gibt!
Umso schöner, dass es dir langsam besser geht. :)
Finde mich da in vielem wieder. Herzlichen Dank für deine Offenheit!
Hey & Danke!
Ich befinde mich selbst inso ’ner Art.. nee, in einer Lebenskriese! Und ich muss was ändern.. insofern danke, dass du gezeigt hast, dass es funktioniert.. oder funktionieren könnte; soweit bin ich noch nicht!
Gruß aus Bärlin
Hallo YUYA,
danke für deine Beschreibung.
Seit Corona habe ich sehr viel getrunken, als die letzten Jahre. Kann das nachvollziehen wie du alles beschrieben hast. Danke dafür.
Ich war auch als kleiner Junge sehr schüchtern. Konnte mich bis in die 9. Klasse nie offen hinstellen und mich als Mensch präsentieren.
In der 9. Klasse habe ich heimlich zu trinken begonnen. Den positiven Effekt merkte ich erst als ich bei einem Referat davor getrunken hatte und mich offen vor allen zeigen konnte. Die Lehrerin war sehr streng und benotete die Ergebnisse der Mitschüler eher durchschnittlich.
Durch meine Offenheit konnte ich Sprechen wie ein Wasserfall und bekam dadurch die Note 1.
Seitdem ist der Alkohol mein Antrieb im Alltag. Leider.
Letztes Jahr bekam ich die erste Panikattacke mitten in der Stadt und ich dachte ich habe einen Herzinfarkt.
Ich hatte dieses Gefühl bisher noch nicht.
Seitdem ich Alkohol reduziert habe, bekomme ich weniger das Gefühl.
Alkohol erzeugt bei mir einen Druck im Bauch und dieser löst bei mir Panikattacken aus.
Auf Dauer werde ich hoffentlich ganz auf den Alkohol verzichten können.
Danke sehr hilfreich auch die selben Worte zu lesen.
Gruß aus München
Danke, dass ich das lesen durfte und du uns teil gelassen hast. Total schön zu wissen, dass ich nicht alleine bin. Sitze gerade auf der Couch mit einem Glas Wein damit es mir besser geht weil ich sonst noch eine schlimme Panikattacke krieg und ich wieder ein bessere körpergefühl habe anstatt immer diese Angst zu fühlen, Druck auf der Brust, Gefühl umzukippen, Gefühl Herzinfarkt etc. 1 Woche war ich jetzt ohne Alkohol und Zigaretten, gestern musste ich wieder Vollgas geben und heute will ich einfach wieder sterben….bin sogar in Therapie wegen meinen Panikattacken. Mir ging es nie so schlecht im Leben. Ich kann mich 1 zu 1 mit dir identifizieren…. Ich wünsche dir alles Gute und bleib dran!!! Ich hoffe ich schaffe es auch ….
Toller Beitrag, den ich (leider) sehr sehr gut nachvollziehen kann. Bitte gerne mehr davon :)
Auch ich danke Dir für die offenen Worte.
Stecke auch in einer Lebenskrise und durch deine Worte
habe ich wieder Hoffnung, dass ich es selbst schaffen kann mir Hilfe zu suchen und es endlich anzupacken.