Wie hast du gelernt, loszulassen? 4 Frauen erzählen ihre Geschichte

1. Dezember 2020 von in

Artwork von @lara.minerva

In ein paar Wochen ist das Jahr 2020 vorüber. Lasst es euch auf der Zunge zergehen. Wenn Ende Dezember die getane Arbeit getan ist und vielleicht auch schon Weihnachten vorüber ist, fällt bei vielen Personen zwischen den Jahren der Stress langsam ab. Bei mir zumindest tut er das. Diese Zeit, die letzte Woche im Jahr, ist manchmal ziemlich merkwürdig. Es gibt oft recht wenig zu tun, und damit wenig Ablenkung. So merkwürdig sie auch ist, so gerne mag ich sie. In dieser Zeit lässt man sein Jahr Revue passieren und nimmt Abschied. Abschied vom Jahr, womöglichen Altlasten, Gedanken, Emotionen, vielleicht auch Menschen. Jedes Jahresende wirkt wie eine kleine Reinkarnation auf Menschen. Und wir werden darin herausgefordert, uns im Loslassen zu üben – ob wir wollen, oder nicht. Denn das Jahr, das lässt man zwangsläufig los. So traurig das Loslassen auch manchmal sein kann, so beflügelnd kann es auch auf einen wirken. So, wie eine Reinkarnation auch. Das Loslassen kann uns befreien, erleichtern, verändern und uns helfen, mehr zu uns selbst und unseren Bedürfnissen zu finden. Das Loslassen kann ziemlich schön sein.

Deshalb haben wir die Geschichten von vier Frauen aufgeschrieben, die ihre persönliche Story erzählen, in der sie gelernt haben, loszulassen. Wann hast du gelernt, loszulassen?

Lilo

Seit Monaten spreche ich mit den unterschiedlichsten Menschen über meine Zukunft, die schon bald zu Ende zu sein scheint. Nicht, weil ich das unbedingt möchte, sondern weil es sich so anfühlt. Ich bin in jeder Sekunde die älteste Version meiner selbst. Wie kann ich wissen, was mir guttut? Auf Dauer? Therapie, Coaching, Partner, Schwester, Mama, Freunde. Fragend, suchend, verzweifelt jeder kleinsten Spur hinterherhechelnd. Podcasts, Sachbücher, Artikel über das 30 werden – eine Flut an Informationen die mich fast ersticken lässt. Doch es ist wie eine Sucht, alles aufzusaugen, mich bestätigt fühlen. Immer auf der Suche und die bleibende Hoffnung das letzte Stück zum Glücklichsein, zur Daseinsberechtigung doch noch zu finden. Die vielen Fragen, die wenigen Antworten. Die leidenschaftliche Suche nach der Leidenschaft. Im kleinsten Detail und der Erkenntnis – ich bin leidenschaftlich auf der Suche.

Denn es ist die ganze Welt, die ich verschlingen möchte, alle Informationen aufsaugen und in meinen Worten, in meiner Wahrheit wiedergeben. Das fühlt sich schwer an. Wo sind die Zeiten der Leichtigkeit geblieben? Der Naivität, mit der ich monatelang durch Indien reiste, um was nochmal zu suchen? Nach etwa drei Monaten schrieb ich meiner Mutter unter Tränen eine Postkarte, die Worte verlassen mich bis heute nicht: „Ich bin mit dem Gefühl nach Indien gekommen mich selbst zu finden. Bis ich realisierte, dass ich mich nie verloren habe.“

Mehr als zehn Jahre später sitze ich in meiner Berliner Wohnung und sehne mich nach jener Naivität, die mir die Welt zeigte. Mit Höhen und Tiefen, mit vor der Nase weg fahrenden Bussen, flüchtigen Begegnungen und dem Stolz in der Brust: bis hier hab ich es geschafft. Lachend in Goa, weinend in Munnar. Am Meer die Weite gespürt und in den Bergen die Enge. Die Einsamkeit, die mich dann lange nicht mehr heimsuchte. Zu abgelenkt den einen richtigen Weg zu finden. Alle Möglichkeiten zu zerdenken, bis hin zur Übelkeit. Obwohl es doch gar nicht so übel ist, das Leben. Es ist voller Liebe, Freundschaft und schöner Dinge. Bis man selbst morgens aufwacht und man merkt, dass die aufgebürdete Illusion des eigenen Selbstbildes einer Person gleicht, die man gar nicht sein möchte. Oder sein kann? Sein muss? Wollen, können, müssen. Drei Worte, die in einem Satz oft den gleichen Platz einnehmen und doch von Bedeutung so grundlegend verschieden sind.

Es gibt etliche Artikel darüber, was das Wort muss mit uns macht. Es engt uns ein, es wartet darauf die guten Dinge, als Pflicht zu betiteln.
Zurück zur Illusion. Da bröckelt sie, die Fassade, die ich meinte, aufbauen zu müssen. Um mitmischen zu können, dabei zu sein, jemand zu sein. Vernetzt, erfolgreich, gefülltes Konto, leeres Herz. Yoga, HIT, Meditation – ein kläglicher Akt zu mir selbst zu finden, die Illusion hinter mir zu lassen und all die Stimmen im Kopf auszuschalten – schalten – schalten – schalten… Sei nicht so streng mit dir, höre ich wieder eine Stimme. Ja! Ich weiß! Das musste mal raus, diese Wut, die sich in mir stapelt wie Brennholz, das darauf wartet endlich in Flammen zu stehen.

Einigen mag es fremd erscheinen, einigen vertraut. Doch mit Hilfe von Therapie und Rückhalt meiner Familie und Freunden konnte ich sie endlich loslassen, die Sehnsucht nach meiner Wahrheit und all die Selbstzweifel, die mich lange davon abhielten, Texte wie diesen zu schreiben.

Anna

Nach längerem Überlegen, schreib ich Euch bezüglich meiner Erfahrungen. Loslassen war mein ganzes Leben nicht mein Ding. Habe ich nicht wirklich gelernt, beziehungsweise nicht vorgelebt bekommen. Angefangen von der Scheidung meiner Eltern, bis hin zu jeglichem Liebeskummer. Alle Gefühle und Gedanken behielt ich wie ein Schatz in mir. Bis ich nicht mehr konnte.

Im Frühjahr 2019 machte ich ein Sabbatical. Auf meiner Reise lernte ich mich von meinen starren Plänen zu verabschieden. Und danach fing es erst richtig an. Mit Meditation, Achtsamkeits-Lehren von Laura Malina Seiler habe ich gelernt loszulassen. Ich habe gekündigt, weil ich noch mehr von der Welt sehen wollte, habe mich von toxischen Menschen verabschiedet und von vielen meiner Glaubenssätzen. Und da hat selbst die Pandemie mir tatsächlich noch geholfen weiter loszulassen und alles auf mich zukommen zu lassen.

Für ein Sabbatical habe ich mich ursprünglich deshalb entschieden, da ich gemerkt habe, dass ich nicht so glücklich bin. Dabei habe ich beruflich genau das erreicht was ich wollte: einen unbefristeter Vertrag beim Fernsehen. Doch das hat wohl nicht gereicht als gewünschtes oder geplantes Lebensziel. Und da ich bis dato noch wenig von der Welt gesehen hatte, dachte ich, es wäre eine gute Idee mal raus aus der Komfortzone zu gehen. Letztendlich habe ich weniger gesehen als geplant, aber dafür ich zig Erkenntnisse für mich gewonnen. Habe mein Freundes- und Bekanntenkreis ausgesiebt. Wer braucht denn schließlich Leute in seinem Leben, die sich für einen nur interessieren, wenn es ihnen passt? Und an den Glaubenssätzen arbeite ich immer noch dran. Wie viele andere glaube ich nicht gut genug zu sein. Das ist das schwierigste: Loszulassen. Heute versuche ich mich einfach mehr selbst aus und schaue was passiert.

Steffi

Es war Sommer. Einer dieser Sommer, in denen man sich noch berühren durfte. In denen Menschentrauben herzlich lachten, Umarmungen an der Tagesordnung standen und wir an jeden Ort konnten, an dem mir sein wollten. In diesem Sommer begegnete ich dir. Du warst anders als die anderen, auch wenn ich das nicht das erste Mal dachte. Jedenfalls hast du mich auf diese ganz spezielle Art in den Bann gezogen. Du gabst mir das Gefühl, dass ich mich auf dich verlassen kann. Seit dem ersten Tag. Ich war safe und mit der Zeit wurdest auch du und dann wurden wir safe. Das Schwierige dabei ist, dass man sich a) nie zu sicher fühlen sollte und b) ein bisschen kaltes Wasser, ein bisschen Ungewissheit das Flamme lodern lässt. Und das im besten Fall über Jahre hinweg. Und das dann wiederum, das kann sich nach „safe sein“ anfühlen. Wir führten eine dieser Bilderbuch-Beziehungen.

Wir dateten uns, stellten während der Treffen fest, dass wir im Partnerlook erschienen sind und lachten herzhaft, deine Eltern mochten mich, meine Kinder mochten dich, wir reisten viel, hörten die gleiche Musik und an manchen Tagen so lang, bis die Sonne aufging, schmiedeten Pläne und träumten die gleichen Träume. Wir waren – wenn man das von außen und meistens auch von innen betrachtet – ziemlich glücklich. Doch gibt es nicht „nur gut“ oder „nur schlecht“. Grundsätzlich nicht. Es kommt wohl darauf an, ob man die Balance findet und ob das „Gute“ eben überwiegt und wie man gemeinsam aus dem „Schlechten“ herauskommt. Mit der Zeit hatte ich das Gefühl, dass du stehen geblieben bist. Und ich? Ich bin weitergegangen. An einigen Tagen bin ich sogar gerannt. In alle Richtungen, nur nicht in deine. Du hast mich zu deinem Lebensmittelpunkt gemacht und nur noch nach mir gesucht. Und je mehr du mir nachliefst, desto mehr hatte ich das Bedürfnis, zu fliehen.

Da gab es Tage, an denen ich das Gefühl hatte, ich würde ersticken und ertrinken zugleich. Tage, an denen ich das Gefühl hatte, ich könnte dich nicht allein lassen. Du würdest aufhören, zu atmen, wenn ich nicht bei dir bin. Du hast einfach alles auf und in mich gesetzt. Ich war dein Doppel-Ass. Dein 24/7. Das ist ziemlich schwer zu tragen. Verantwortung für dich. Mit der Zeit bist du ein bisschen zu meinem dritten Kind geworden. Du hast zu mir aufgeblickt. Suchtest nach Anerkennung. Und bist mir blind gefolgt. Ich habe erst mit der Zeit des intensiveren Kennenlernens verstanden, dass immer einer mehr liebt und immer einer mehr leidet. Und das hast du mich spüren lassen. Liebe ist keine Einbahnstraße. Liebe ist keine Abhängigkeit. Liebe ist nicht immer laut aber auch nicht immer leise. Liebe ist Festhalten und Loslassen in einem 70:30 Verhältnis. In der Liebe kommt es immer auf die Mische an. Und unser Drink war am Ende leider nur noch bitter.

Ich hatte das Gefühl, dass du dich aufgegeben hast. Für mich. Dass du alles nach mir ausgerichtet hast. Und je öfter ich dir das sagte, desto heftiger fingst du an, die Wahrheit zu verleugnen. Du wusstest es einfach nicht besser. Und ich? Ich habe mich überfordert gefühlt. Auch ich habe mich ein Stück weit aufgegeben. Um dir Sicherheit zu geben. Aber es hätte nie gereicht. Außer, ich hätte alles auf dich gesetzt. Und mein „Alles“ – das wäre nie gut gegangen. Du wolltest alles. Und ich dann am Ende nichts mehr. Ich habe losgelassen. Einen Tag vor meinem 35. Geburtstag habe ich dich und letztendlich uns losgelassen und bin jetzt wieder Single in der Großstadt.

Die Vorstellung von dem, was wir einst waren oder hätten werden können, an der halte ich an einsameren Abenden immer wieder mal einen Augenblick lang fest. Aber ich weiß, das ist nur ein Moment. Mir geht es jetzt besser. Ich fühle mich wieder. Ich kann wieder atmen. Und die Schwere, die auf meinem Herzen und meinem Gemüt lag, die verfliegt so langsam. Es ist verdammt schwer, jemanden loszulassen, den man so gerne festgehalten hat. Oder eine Idee, eine Vorstellung, die man in Gedanken schon so oft durchgespielt und gelebt hat. Ich habe viel geweint seit ich eine Entscheidung getroffen habe. Es gibt Samstage, an denen ich uns vermisse, morgens mit Kaffee und lachenden Gesichtern im Bett. Wir haben weh getan und tun es auch jetzt noch. Aber auch das gehört dazu, habe ich gelernt. Loslassen ist ein Prozess. Eine Entscheidung. Wir haben eine Wahl. Du hattest keine, denkst du. Weil ich für dich entschieden habe. Ich würde dir jetzt gerne Ratschläge geben. So etwas sagen wie: „Sieh die Trennung als Lernprozess an“ oder „auf Regen folgt Sonnenschein“ oder auch „Wenn etwas zu Ende ist, entsteht etwas Neues“ und dass du das gar nicht aufhalten kannst und nur noch nicht siehst. Aber das würdest du nicht verstehen, weil du noch immer so sehr damit beschäftigt bist, mich festzuhalten.

Zoe

“Ich muss J loslassen.” Das wurde mir im März klar, auf einem Spaziergang zwischen Spree und Tiergarten. J und ich hatten drei Jahre miteinander geteilt. Diese drei Jahre waren zugleich die schönsten und die schlimmsten meines Lebens.

J war die große Liebe. Mit J wollte ich alles – alles teilen. Wir schmiedeten Pläne, malten uns eine Zukunft aus, Unterwegs und im trauten Heim. Immer wir. Und immer in einer Zukunft die niemals eintraf. J lebte 16.000 Kilometer entfernt von mir. Immer der Wille unsere Leben zusammenzubringen. Und immer das: der Wille, der Wunsch, der Traum. Ein Traum. Drei Jahre tiefster Liebe. Erstaunlich wie eine Liebe so tief und innig sein kann, wenn man so weit voneinander entfernt ist. Aber das war sie: die tiefste Liebe, ist es vielleicht. Und gleichzeitig womöglich die einsamste Liebe, die erwidert sein kann. Niemals habe ich mich ganz gefühlt, immer fehlte etwas. Die schönsten Momente: immer voll von Leere. Das Herz zerrissen und der Kopf nie ganz da, nirgendwo.

Das Band, das uns über die tausenden von Kilometern verband war straff gespannt. Die Spannung war, was uns entfremdete – von uns selbst. Die Intensität und der Wunsch nach dem Miteinander sein, die Entfernung und die individuellen Vorstellungen und Wünsche trafen hart auf Bedürfnisse, Vorstellungen und Ideen davon, wie die Dinge sein sollte.

In einem Strudel aus Emotionen und “nur das Beste wollen” Entwickelten wir toxische Verhaltensweisen und Dynamiken, aus denen es uns unmöglich wurde herauszukommen und die uns immer weiter hinab sogen. Wir konnten das sehen und uns doch nicht davon befreien. Waren ihnen unterlegen und verfielen immer mehr und mehr. Gemeinsam und doch jeder allein – das gleiche aber immer anders. Denn wenn dort Tag war, war hier Nacht. Wenn dort Sommer war, war hier Winter. Wenn es dort warm war, war es hier kalt.

Es war auf einem Märzspaziergang an der Spree, als ich erkannte, dass ich mich mit J einsamer fühle, als ich es ohne ihn jemals könnte. Am nächsten Morgen rief ich ihn an und trennte mich.

Auf meinem nächsten Spree-Spaziergang war ich zwar allein, aber nicht einsam. Das erste Mal nach drei Jahren war ich wieder ganz, war alles genug und vollwertig. Es tat weh, aber den Schmerz kannte ich mittlerweile gut. “Ja, es schmerzt, aber das hat es vorher auch.”. Ich habe den größten Teil aus meinem Leben gestrichen. Und zum ersten Mal seit Jahren wurden mein Leben wieder Ganz.

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2 Antworten zu “Wie hast du gelernt, loszulassen? 4 Frauen erzählen ihre Geschichte”

  1. Vielen Dank für den tollen Artikel!
    Ich habe dieses Jahr auch von so Vielem losgelassen. Mein ganzes Leben hat sich geändert und nach langer Trauer fühle ich mich jetzt so befreit wie lange nicht mehr. Ich bin stolz auf meinen Mut das alles mit Kind zu machen und für mich und unser gemeinsames Leben einzustehen. Ich möchte meiner Tochter zeigen, dass man sein Leben selbst gestalten kann und nicht in einer unglücklichen Situation ausharren muss um der Konvention zu entsprechen.

  2. Das sind wunderschöne, tiefe, traurige, berührende und ermutigende Geschichten, die mir alle irgendwie aus dem Herzen sprechen. Eins ist mir wieder klar geworden: Wenn Du anfängst, Dich selber zu betrügen, Dich und Deine Werte verleugnest und Du Dich so verbiegst, dass der Rücken wehtut- dann solltest Du loslassen! Aber schnell!

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