Wenn die Gleichzeitigkeit der Dinge schmerzt

12. Oktober 2023 von in

Mir fehlen die Worte. Seit Tagen versuche ich, sie zu finden, mich zu sortieren, und scheitere schon an den einfachsten Sätzen. Die Welt zerfällt, während mein Kosmos weiter bestehen bleibt. Die Gleichzeitigkeit der Dinge, sie lässt mich fast sprachlos zurück.

Ich stehe auf, ich putze mir die Zähne, und noch bevor ich fertig bin, trifft es mich. Irgendwo auf dieser Welt sieht es gerade anders aus. Dort herrscht Wasserknappheit, während ich es bei mir gedankenlos kurz laufen lasse. Ich gehe zum Sport, lache mit Freund:innen und denke bereits an mein möglichst gesundes Mittagessen. Mein Herz ist schwer, denn ich weiß, irgendwo auf dieser Welt sind Menschen in größer Angst und Hoffnung auf Leben. Essen? Die kleinste Sorge. Ich gehe zur Wahl, und es ist so klar für mich, dass bestimmte Parteien nicht wählbar sind. Beim Verkünden des Ergebnisses bin ich wieder erschüttert, weil mein „Richtig“ für so viele ein anderes ist.

Jede Minute, jede Sekunde, in der ich mein freies Leben führe, in dem ich meine eigenen Sorgen habe, Ängste und Verluste, weiß ich: Es ist nichts, nichts gegen das, was andere Menschen erleben müssen. Und doch steht beides gleichzeitig nebeneinander.
Jeden Tag sterben Menschen im Mittelmeer. Jeden Tag kämpfen Menschen in der Ukraine um ihr Leben, um Frieden, in einem Krieg, der aus der westeuropäischen Perspektive so unsinnig erscheint. Jeden Tag hungern Menschen in Ländern wie Jemen, Kinder, Frauen und Männer wissen nicht, ob sie den nächsten Tag erleben werden. Und: In Israel sterben Menschen. Jüdische Menschen, die gerade noch feiern, einkaufen oder am Abendessen kochen waren, werden brutal ermordet und entführt. Gefoltert, gequält und auf unmenschlichste Art und Weise behandelt. Gräueltaten, die ich mir gar nicht ausmalen kann, werden von Terroristen begangen.

Ich möchte mich übergeben. Aufgrund der Nachrichten, die so schrecklich sind, dass mein Kopf sie gar nicht verarbeiten kann. Und, weil ich diese Nachrichten konsumiere, diese grauenvollen Nachrichten wahrnehme, irgendwie verarbeite – und dann doch meinen Hund streichle und mein Abendessen esse. Als wäre nichts passiert. Als wäre das, was gerade in diesem Land oder nur wenige Tausend Kilometer von mir entfernt passiert, etwas, das ich sehe, aber gleichzeitig irgendwie weit weg ist. Bin ich abgestumpft? Ist es die Masse der Nachrichten, die mich emotionsloser werden lässt? Oder ist es normal, dass wir uns daran gewöhnen? Nachrichten dieses Ausmaßes wahrnehmen, und trotzdem weiter machen wie bisher?

Wie kann und muss meine Rolle in dieser Welt aussehen, die gefühlt gerade zerfällt?

Wie kann ich etwas tun, in einer Welt, in der die schlimmsten wie schönsten Dinge gleichzeitig passieren? Und: Kann ich bei Themen wie dem antisemitischen Anschlag auf Israel und die Diskussion um den Nahost-Konflikt überhaupt etwas tun? Meine Gedanken fahren Achterbahn, während ich nach außen hin mein ruhiges Leben lebe.

Die Gleichzeitigkeit der Dinge ist im Alltag, im Privaten schon manchmal so schwer zu fassen. Wenn wir unsere Familie wertschätzen, und trotzdem Grenzen setzen müssen. Wenn wir jemanden lieben, und uns trotzdem trennen müssen. Wie sollen Kopf und Seele dann nur eine solche Gleichzeitigkeit aushalten?

Ich wünschte, die Welt wäre einfach zu erklären. Sie wäre eben schwarz und weiß. Das ist gut, das ist schlecht. Das ist das Richtige, das ist das Falsche. Und doch sind die Positionen und Blickwinkel von Menschen immer unterschiedlich. Es sind Nuancen, die uns unterscheiden – und manchmal entscheiden.

Ich kann für mich entscheiden, was das Richtige nach meinem moralischen Kompass ist. Doch globale Einigkeit, die suche ich vergebens.

Ich verurteile Terrorismus aufs Schärfste. Mord und Gewalt an unschuldigen Menschen ebenso. Niemand hat das Recht, über das Leben eines anderen Menschen zu entscheiden. Niemand hat das Recht, mit Gewalt seine Bedürfnisse durchzudrücken. Das fängt im zwischenmenschlichen Zusammensein an und hört im Terrorismus auf. Genauso wie Rassismus, Antisemitismus, Hass und rechtes Gedankengut niemals einen Platz in unserer Gesellschaft einnehmen dürfen.
Das, was die Hamas in Israel gemacht hat, ist ein antisemitischer Terroranschlag und aufs Schärfste zu verurteilen. Diese militante Terrororganisation hat nicht das Ziel, Palästina zu befreien, sondern versucht unter dem Deckmantel dessen nur eines: Juden zu töten. Die Hamas ist eine Terrororganisation – Palästina, die Menschen dort selbst sind keine Terroristen. Genauso wenig wie die jüdischen Menschen, die auf dem Festival und in Israel getötet worden sind, nichts, rein gar nichts mit der Regierung Israels und ihrer Politik zu tun haben. Es waren unschuldige Menschen, die brutal ermordet und entführt worden sind. Ich weiß, dass der ganze Nahost-Konflikt so viel größer, tiefer und historischer ist, als ich es jemals aufschlüsseln könnte. Dass die Fronten vielfach verhärtet sind. Und trotzdem weiß ich: Das, was in Israel geschehen ist, war ein antisemitischer Anschlag auf die jüdische Bevölkerung. In dessen Folge auch die palästinensische Zivil-Bevölkerung leiden wird.

Es wäre so viel einfacher, diese eine Seite zu ergreifen, sich auf eine Seite zu stellen, und doch ist es eben so: Die Welt ist nicht schwarz-weiß, sie ist in vielen Momenten grau. Und voller Leid.

Der Mensch neigt dazu, sich die Welt zu erklären. Deswegen suchen wir schnell eine Seite, versuchen eine Position zu ergreifen. Und dann passiert es, dass wir in dem einen Moment auf der Seite stehen, und im anderen auf der anderen. Weil die Welt komplex ist, Konflikte und Kriege komplex sind und manchmal jahrhundertelange Historie alles wahnsinnig kompliziert macht. Kathi von @ketchem schreibt es in ihrem Instagrampost ganz wunderbar: Manchmal fliegt das Mitgefühl dort hin, manchmal dort hin. Man versucht, beide Seiten zu verstehen, nachzuvollziehen – und irgendwie einen Weg in dieser hochkomplexen Thematik zu finden. Der Kopf sucht Lösungen, Erklärungen. Doch dieses Mal stehe ich vor allem auf der Seite der jüdischen Menschen. Gleichzeitig blutet mein Herz, wenn ich an all die Kinder, Babys und Erwachsenen in Palästina denke, die für die Hamas mit ihren antisemitischen Zielen und für diesen großen, undurchdringbaren Konflikt nichts können – und doch mit ihrem Leben bezahlen werden.

 

 

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Ein Beitrag geteilt von Katharina (@ketchem)

Mord, Terrorismus, Gewalt, Rassismus und Antisemitismus. All das ist zu verurteilen, hier gibt es keine Diskussion. Wer feiert, dass Menschen sterben, hat seinen moralischen Kompass verloren. Wer zelebriert, dass jüdische Menschen getötet, gefoltert und in Geiselhaft genommen wurden, hat nichts aus der Historie gelernt. Niemals ist es in Ordnung, dass für ein vorgeschobenes Ziel unschuldige Menschen getötet oder gequält und von ihren Liebsten entrissen werden. Und das, was in Israel passiert ist, ist ein antisemitischer Terroranschlag, der den jüdischen Menschen galt. Der schlimmste Massenmord an jüdischer Bevölkerung seit 1945. Ein Albtraum, den ich kaum beschreiben mag.

Ich lese in den vergangenen Tagen so viel es geht. Ich konsumiere Nachrichten. Ich schaue nicht weg. Ich spreche mit Freund:innen, mit Betroffenen, höre mir so viele Meinungen, Positionen und Gedanken zum Nahost-Konflikt genauso wie zu den anderen komplexen Themen an. Ich versuche, mir einen Weg zu bahnen, durch all die Kommunikationskanäle, auf der Suche nach einem Anker, der mir zeigt, wie meine Rolle in einer Welt aussehen kann, die gefühlt zerfällt.

Themen, die nah an mir dran sind, kann ich leichter steuern. Ich kann mit Menschen sprechen, mich klar gegen rechts und Hass positionieren, damit die AfD und Rechtspopulismus nicht noch größer werden. Kann hier aktiv sein, um Schlimmeres zu verhindern. In der Hoffnung, wenigstens eine Person zu erreichen. Und bei Themen wie dem Nahost-Konflikt, der weiter weg, vielleicht auch schwerer zu durchdringen ist? Auch da bleibt mir das Engagement, meine Stimme zu erheben, mich zu informieren und vor allem eines zu tun: mitzufühlen. Meine Empathie gegenüber all den Menschen, die Leid erleben und am Ende wahnsinnig viel verlieren, aufrechtzuerhalten. Nicht nur jetzt, sondern auch die nächsten Wochen, Monate, vermutlich Jahre.

Ich fühle mich manchmal hier auf amazed wie eine broken record. Weil ich das seit Jahren immer wieder schreibe und meine. Weil ich jedes Mal, wenn etwas so Schreckliches passiert, an unser Mitgefühl appelliere, an das Engagement und das Darübersprechen. Aber was bleibt mir übrig, in einer Welt, die so voller Extreme ist.

 

 

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Ein Beitrag geteilt von Telavivian (@telavivian)

Diesmal habe ich wirklich lange überlegt, ob ich überhaupt etwas sage. Hier wieder etwas schreibe, trotz meiner Sprachlosigkeit. Nach der Flüchtlingskrise 2015, nach den US-Wahlen mit Trump, nach dem Krieg in der Ukraine und den schrecklichen Ereignissen im Iran. Aber wäre das nicht eine Bankrotterklärung für uns, nichts zu sagen? Wäre es für unsere jüdischen Mitmenschen ein Albtraum, wenn wir schweigen? Ganz nach dem Motto, dass all diese Nachrichten, all diese Ereignisse längst Alltag für uns geworden sind? Dass es schon wieder passiert? Dass jüdisches Leben nicht genauso wichtig ist wie das der Menschen im Iran, der Ukraine und Syrien? Niemals darf das kleine wie große Schreckliche Alltag werden. Niemals dürfen wir schweigen. Wir müssen es sehen, darüber sprechen und mitfühlen. Mit all den Menschen, die betroffen sind.

Für mich kommt mit unserer Reichweite eine Verantwortung. Nicht eine, die mit sich bringt, über große politische, komplexe Themen zu berichten, sie einzuordnen und zu beurteilen. Das kann ich nicht. Dieses Wissen habe ich nicht – und kann ich mir in so kurzer Zeit auch nicht aneignen. Aber ich habe eine Verantwortung, meine Stimme zu nutzen, für mehr Empathie, Mitgefühl und das Erkennen der Gleichzeitigkeit zu appellieren. Die Angst vor Position nicht gewinnen zu lassen, sondern klar zu benennen, wenn Unrecht geschieht. Den jüdischen Mitmenschen zeigen, dass wir dieses sehen. Ich kann meine Stimme nutzen, um über meinen Struggle zu sprechen, wie schwer es ist, in einer Welt zu leben, in der eben vieles gleichzeitig passiert – und wie sehr es mich manchmal trifft, dass ich das Glück habe, auf der sonnigen Seite zu stehen. Für den Moment.

Und so habe ich in den letzten Tagen beschlossen: Wenn ich schon fast meine Stimme verliere, will ich in dieser komplexen Welt nicht auch mein Mitgefühl verlieren, egal, wie sehr die Gleichzeitigkeit der Dinge schmerzt. Und ich hoffe, euch geht es genauso.

 

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4 Antworten zu “Wenn die Gleichzeitigkeit der Dinge schmerzt”

  1. Liebe Antonia, ich lese schon lange hier mit und schon oft haben mich eure Artikel berührt und ich habe dennoch nie kommentiert. Dieses Mal hast du mir wirklich aus der Seele gesprochen und das wollte ich dich einfach mal wissen lassen. Egal wie häufig diese sinnlose Gewalt noch Thema sein wird, wir dürfen nicht abstumpfen oder unser Mitgefühl verlieren! Danke, dass ihr eure Stimme nutzt!

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