Kolumne: Wieso Weiblichkeit nicht an der Haarlänge gemessen werden sollte

17. November 2021 von in

„That is one ugly guy. Repeat that is a guy NOT a girl. Stop trying to be one”. Steht da unter einem Bild in meinem Feed. Absender unbekannt. Auf dem Foto bin ich zu sehen. Mit kurzen Haaren. Frisch geschnitten. Zum dritten Mal in meinem Leben. Ich sitze im leeren Zimmer meines Bruders, im Haus meiner Eltern. Die Sonne scheint durch das Fenster. Zwei Tage vorher habe ich mich getrennt – von meinen Haaren, die nach zwei Jahren wieder lang genug für einen Messy Bun waren. Kommentarlos melde ich die 56 Zeichen. Es berührt mich nicht, denn ich habe keinen Bezug zu diesem User. Aber es beschäftigt mich. Vielleicht wäre es anders gewesen, hätte er mir das ins Gesicht gesagt – wer weiß. Aber ich weiß, dass ich meinen Selbstwert nicht von außen abhängig machen muss und werde. In meinem Profil stehen die Pronomen she/her. Und dennoch beschäftigt mich seit geraumer Zeit die Frage: Wieso ich mich, sobald ich kurze Haare habe, für meine Weiblichkeit rechtfertigen muss?

Vorstellungen von Weiblichkeit und Frauen mit Kultur

Plötzlich finde ich mich in absurden Konversationen wieder, die mit Phrasen starten wie „Jo, Bro“, „Sieht so aus, als hätten wir den gleichen Vater“ oder „Feministin, die sich nicht die Beine rasiert“. Führe Grundsatzdiskussionen darüber, was genau EiNe FrAu MiT kUlTuR ist und wie Weiblichkeit in eine bestimmte äußere Form passen muss. Diese Art von Mindset, welches starr auf bestimmte Konzepte von Gender beharrt, erinnert an die 50er und hat einen ganz unangenehmen Beigeschmack. Hinzu kommt der ausgesprochen schwierige Umstand, dass es 2021 immer noch als „mutig“ betitelt wird, sich als Frau gegen lange Haare zu entscheiden. Als würde meine Haarlänge in irgendeiner Form etwas darüber aussagen, wie ich als Mensch bin und wie viel Weiblichkeit mir zusteht.

Es ist fast schon komisch, wie sehr mein kurzer Haarschnitt polarisiert und wie ich dadurch in die Verlegenheit gebracht werde, meine Weiblichkeit immer aufs Neue beweisen zu müssen.

Dabei habe ich mich noch nie weiblicher gefühlt. Seitdem ich kurze Haare habe, geht es nur noch um mich. Nicht nur meine Haare – mehr mich als Person. Und das ist für mich eine Art der Emanzipation. Mit ihnen konnte ich nie so richtig in mir selbst Ruhen – weil wir uns immer auf die ein oder andere Weise in den Haaren lagen. Es war kompliziert bis dramatisch, aber natürlich auch schön. Aber nicht unbedingt schöner als jetzt – eben anders.

Buzzcut oder BH-Verbrennen – ein äußerlicher Aktivismus?

Sinéad O’Connor, Charaktere aus Film und Fernsehen oder Twiggy in den 20ern. Vor allem Letzteres ein Jahrzehnt, in dem Frauen dem Patriarchat mittels ihres Äußeren den Kampf ansagten. Es lassen sich Parallelen ziehen, aber braucht es das? Müssen einfache Entscheidungen immer gleich gesellschaftspolitisches Gewicht haben. Oder können wir sie nicht auch um ihretwillen wertschätzen – ohne sie gleich auf ein Podest zu heben?

Faktisch ist vor allem in der heutigen Zeit so vieles ein Akt der Rebellion, ein Anflug von Aktivismus oder der Versuch eines Paradigmenwechsels. Übersetzt als Trend, Meme oder anderem Online-Phänomen. Wenn man will, lassen sich genügend Beweise dafür finde, dass der Buzzcut durch TikTok und Pandemie zu einem Symbolbild geworden ist – mit über 870 Millionen Aufrufen. Der dazugehörige Filter machte die Frisur sogar zum Gesprächsthema 2021 und gab jedem die Möglichkeit, risikolos Blank zu ziehen.

Runter damit und dann? Im Gegensatz zum Britney 2000-Meme ist dieser kollektive Gedanke (mit hochkarätiger Besetzung wie Jada Pinkett-Smith und weiteren) kein Zeichen von Krise. Mehr als Freimachen, von äußerlichen Zwängen und vielleicht auch einer Versöhnung mit sich selbst gemeint – so fühlt es sich für mich zumindest an. Denn Verändern tut sich dadurch nichts, was nicht schon vorher dagewesen ist. Auch wenn das vielleicht mehr ein Flüstern im Inneren war. Eine Stimme, die sagt: Schönheit und Weiblichkeit ist etwas, das aus einem selbst kommt – ganz unabhängig, vor allem von Haaren.

 

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Mit kurzen Haaren lässt sich nichts verbergen – oder?

Vor zwei Jahren wollte ich also herausfinden, was ich für ein Mensch ohne meine Haare bin. Nachdem das erste Mal eher unfreiwillig passierte, war das zweite ein Entschluss. Und mit jedem Mal der Trennung tut es weniger weh. Weil ich mich darauf freue. Denn ich habe mich noch nie so leicht gefühlt. Leicht, weil ich nicht mehr nur über meine Haare definiert werde. Leicht, weil ich ihr Gewicht nicht mehr tragen muss – das Wortwörtliche und Übertragene. Denn jed:er, mit Locken oder Afro weiß, wie sehr Haare zum Subjekt gemacht werden. Sie dich als Person verschlucken können, weil sie mit einem wahnsinnig präsenten Charakter bestechen – so I did it again, im Sommer 2021! Und auch um mich herum werden die Haare immer kürzer. Aber während ich dabei damit zu kämpfen habe, nicht als vollwertig weiblich wahrgenommen zu werden, bestätigt sich meine Theorie auch im Umkehrschluss:

Freund:innen mit sehr femininen gelesenen Körpern nutzen kurze Haare als Stilmittel, um weniger weiblich wahrgenommen zu werden. Vor allem, um dem sexualisierenden Malegazing entgegenzuwirken und nicht mehr von bestimmten Typen angesprochen zu werden. Aber auch, um ihre Körper nicht verstecken zu müssen, die von außen immer als das Sinnbild von vollkommener Weiblichkeit wahrgenommen werden. Und auf einmal spielt da dann doch die gesellschaftspolitische Relevanz eine Rolle. Denn es geht um das gesehen oder nicht gesehen werde. Für mehr als nur das Offensichtliche – weniger reduziert auf Körper, Form und Exotismen.

Die Idee von Weiblichkeit ist ein Mythos, der sich gut verkauft

Es sind also Konzepte von Gender sowie kulturellen und epochalen Eigenheiten, die bei der Idee von Weiblichkeit eine tragende Rolle spielen. Beeinflusst von Ikonen wie Beyoncé bis Botticellis Venus, die mit ihren Idealvorstellungen ein Raster diktieren, in das wir entweder passen oder wodurch wir hindurchfallen. Also liegt die Antwort auf das große Warum – ich nicht schön, Schwarz, stark, sensibel, she/her und alles, was ich sein möchte, sein kann – in und außerhalb dieser Schnittmenge. Irgendwo hinter den beobachtenden Blicken. Die starren. Zu lange, zu unangenehm. Die lächeln, freundlich und unerwartet. Die sich angesprochen fühlen und ansprechen – undifferenziert und ungefiltert. Weil ihnen Schönheit auffällt, die aus dem Raster fällt – die weder eurozentrisch noch exotisch genug ist. Die im vorne herein ihre Weiblichkeit mit ambivalenten Komplimenten abgesprochen bekommt – die sich in sich selbst Verneinen.

Und irgendwie ist das schmerzhaft, aber auch befreiend – denn Weiblichkeit braucht keine Rechtfertigung oder Bestätigung. Das Konzept ist in sich geschlossen, unglaublich fluide und trägt sich von selbst. Hat das immer schon getan. Vor allem unter diesem Aspekt ist für mich die Legende der schwarzen Venus von Cienfuegos eine beispiellose Inspiration:

Ihr Anblick war so transzendent, dass man beschloss, sie zu besitzen. Doch im Besitz oder dem Versuch, sie zu bezwingen, ging sie verloren. Denn ihr ganzes Wesen war darauf ausgerichtet, sich selbstbestimmt und außerhalb von Normvorstellungen zu entfalten. Fernab von Malegaze, Genderdebatten und der Frage nach Haarlänge und Zugehörigkeiten. Eine Vision, die auch wir verinnerlichen sollten – zu sehen, ohne einordnen zu wollen und zu Erfahren ohne den Versuch, es zu benennen und herunterzubrechen.

my favorite of hers: „Birth of Oshun“ (with the Yoruba deity Oshun in the role usually played by a white Venus). several of my myth students wrote about how meaningful this painting was for them, as students of color in a „Classics“ setting. there’s more to life than Botticelli! https://t.co/HEwAjYBRlF pic.twitter.com/LREf6lCcCx

— Dr. Rachel Hart (@rmlhart1) July 2, 2020

Bildcredits: Unsplash eins, zwei und drei

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