Es ist schon lange her, seit ein Weltereignis dermaßen simpel zu verstehen war. Notre Dame brennt. Das war’s. Keine politischen Verstrickungen, kein breiterer Kontext. Es ist sicherlich diese Einfachheit in Kombination mit den atemberaubenden Bildern, die dazu geführt haben, dass die Nachricht vor ein paar Tagen selbst jene zur Trauerbekundung bewegt hat, die bloß mal 2008 auf Klassenfahrt in Paris gewesen sind. Ab einem gewissen Punkt des Voranschreitens der Berichterstattung kann man nicht mehr unterscheiden, ob man gerade ehrlich bestürzt ist oder bloß, weil alle anderen es zu sein scheinen. Ähnlich wie bei einem Promi-Tod: Egal, wie uninteressant man ihn oder sie zu Lebzeiten gefunden hat – spätestens beim zwanzigsten Tribute fühlt man sich dann doch persönlich betroffen. Das bedeutet natürlich nicht, dass man nicht auch beides ehrlich betrauern kann. Dennoch macht sich eine gefährliche Tendenz breit: Denn je simpler und bildgewaltiger ein Ereignis ist, desto relevanter erscheint es uns. Es ist der Grund, wieso Schlagzeilen wie die Paradise Papers oder die Cum-Ex-Files (die in ihrer Brisanz kaum zu überbieten sind) so gut wie keine kollektive Reaktion auszulösen wissen: Zu kompliziert, zu schlecht illustrierbar.
Was brennt mit, wenn Notre Dame brennt?
Eine Kirche brennt. Allein dieser Satz! Er löst eine Menge Szenarien aus, die manche mit Terror, andere mit Blasphemie, und manche bloß mit fehlenden Brandschutzvorkehrungen verbinden. Aber: Alle verbinden etwas damit. Und auch, wenn man das erst mal nicht denkt: All diese Szenarien sind hochpolitisch. Dabei ist es völlig egal, ob vielleicht bloß eine nicht richtig ausgetretene Zigarette am Brand Schuld ist: Wenn 850 Jahre altes Holz brennt, dann fangen alte Diskurse ebenso Feuer.
Ein Hauch von Apokalypse
„Mystisch“ ist das Wort, das am Besten beschreibt, welchen Eindruck 850 Jahre Geschichte in Flammen erwecken. Man muss nicht in Notre Dame gewesen sein, um sich von den Bildern der Flammen mitten in Paris ergriffen zu fühlen. Die Bilder erinnern an den 11. September: Zwei Türme in Flammen. Die Medien werden von einer Bilderflut des Infernos überrollt. Ein bisschen Apokalypse liegt in der Luft. Und gerade weil es sich beim Brand in Paris um keinen Terror, sondern wahrscheinlich um einen bloßen Unfall handelt, befördert dieser Anblick sehr intensive Emotionen hervor. Man spürt die Allmacht des Zufalls. Die Verletzlichkeit von Symbolik. Es lässt einen ehrfürchtig werden.
All das ließ den Brand in rasender Geschwindigkeit von einer bloßen Neuigkeit zu einem Weltereignis von gigantischem Ausmaß wachsen. Dass das deutsche Fernsehen keinen Brennpunkt (no pun intended) sendete, hatte vielleicht auch damit zu tun: Die Wirkmacht der Bilder wurde unterschätzt, ebenso das Ausmaß des medialen Aufschreis. Der französische Medienkritiker Jean Baudrillard (2007 verstorben) hätte einiges zu diesem Medienrummel zu sagen gehabt: Er bezeichnete schon 9/11 aufgrund seiner medialen Überladung als eine Art Realityshow, eine Art virtuelles Weltereignis, das mit komplett neuen Bedeutungen aufgeladen werden kann. Erst der Bildschirm produziert das Ereignis und macht es zu einem Teil unserer kollektiven Erinnerung. Das konnte man anhand der imposanten Bilder, Drohnenflüge und Instagram-Stories um Notre Dame ein weiteres Mal live beobachten.
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Wer entscheidet, was wir kollektiv betrauern?
Was dann folgte, war erst ein Schub der Bestürzung, dann ein Schub der Bestürzung über die Bestürzung. Denn der Brand fördert auch eine Menge Widersprüche zu Tage. Und es fiel einem in einer relativ linken Social-Media-Blase sehr schwer, nicht genau das zu praktizieren, was man den Rechten immer vorwirft: Whataboutism. So nennt man das, wenn man, statt sich mit einem Ereignis zu befassen, immer zu Vergleichen greift: „Ja, dass Flüchtlingsheime brennen, ist schlimm, aber was ist mit den vielen deutschen Obdachlosen?!“. Man kennt es. Es ist streng genommen dieselbe Praktik, wenn man den Brand von Notre Dame mit der Zerstörung von Aleppo oder den Ertrinkenden im Mittelmeer zu vergleichen versucht.
Man kommt dennoch nicht umhin, sich zu fragen: Wer oder was entscheidet eigentlich, was kollektiver Trauer wert ist und was nicht? Denn auch, wenn man die geographische Nähe zu Paris und die kulturellen Überschneidungen beachtet, die von Paris nach Deutschland reichen: Ist beispielweise die Zerstörung der Bauwerke aus dem 2. und 3. Jahrhundert in der Wüstenstadt Palmyra in Syrien – ein UNESCO-Weltkulturerbe – irrelevant? Streng genommen handelt es sich dabei um ein noch viel älteres und mindestens genauso relevantes kulturelles Erbe. Und das ist nur ein Beispiel von sehr, sehr vielen: Von den meisten davon haben wir nie etwas mitbekommen. Hier wird meist vergebens auf Gelder für eine Restauration gewartet. Und da ist er wieder, der Whataboutism. Er brennt einem unter den Fingernägeln.
Und beim Thema „Gelder“ kommt auch schon ein weiterer, brisanter Punkt ins Spiel: Beinahe eine Milliarde Euro. So viel Geld spendeten Privatpersonen und Unternehmen, um Notre Dame wieder aufzubauen. Und auch hier juckt es einem wieder in den Fingern, Vergleiche anzustellen: Zum Beispiel, wenn man bedenkt, dass Sea Watch im ganzen Jahr 2017 nur 1,6 Millionen Euro Spenden sammeln konnte. Das entspricht etwa 0,002 Prozent der Spenden, die für Notre Dame in 48 Stunden gesammelt wurden. Man will Leid nicht gegeneinander aufwiegen, und das Eine hat mit dem Anderen wenig zu tun – aber man will solche Unverhältnismäßigkeiten auch ungern unhinterfragt lassen.
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In Wahrheit brannte ein Symbol
Was in Notre Dame Feuer fing, war also offensichtlich nicht nur 850 Jahre altes Holz, sondern auch eine Menge Debatten. Debatten um Prioritäten, um Medienrezeption, um Menschenrechte, um Eurozentrismus. Die hier erwähnten sind nur einige von vielen. Denn neben Linken, Rechten, Gläubigen und AtheistInnen haben auch VerschwörungstheoretikerInnen, KunsthistorikerInnen, UmweltschützerInnen und auch alle anderen eine Menge Senf dazuzugeben. Es handelt sich dann eben doch um mehr als um eine brennende Kirche. In Wahrheit brannte auch ein Symbol – und zwar eines, das nicht nur eines, sondern sehr viele unterschiedliche Narrative bedient. Dementsprechend ist die Suche nach der einen Wahrheit sinnlos, denn jede Person sieht etwas anderes brennen, wenn sie Notre Dame brennen sieht. Statt also nach diesen Wahrheiten zu suchen und Tragödien gegeneinander aufzuwiegen, sollten wir den Brand von Notre Dame vielleicht als Gelegenheit sehen, unseren Medienkonsum zu reflektieren und uns zu fragen, was ein Weltereignis eigentlich erst zum Weltereignis macht. Welche Diskurse sich durchsetzen werden und welches Stück Geschichtsschreibung sie letzlich produzieren werden, ist noch unklar. Aber – um einen der populärsten Tweets der letzten Tage zu zitieren – wir sollten uns besser daran gewöhnen, dass Dinge, die kulturelle Bedeutung generieren, sinnbildlich in Flammen aufgehen. Es war nicht das erste Mal in unserer Lebenszeit und es wird gewiss nicht das letzte Mal gewesen sein.
Watching something that took centuries to develop, something that can never entirely be recreated, disappear in the comparative blink of an eye — that, in slow motion, is going to be the dominant feeling of the 21st century. Only instead of buildings: glaciers, forests, species.
— David Roberts (@drvox) 15. April 2019
Bildcredits: Gary Todd / Mike Labrum
3 Antworten zu “Was brennt mit, wenn Notre Dame brennt?”
Wer sich nicht für Baudenkmäler interessiert, dem stehe es völlig frei, sich mit etwas anderem zu befassen – andere haben bei der mutwilligen Zerstörung Palmyras sehr wohl mit gelitten (die Gelder für dessen Restaurierung werden im Übrigen weitestgehend von der UNESCO übernommen, die ja bekanntlich von zahlreichen Ländern dieser Welt ihr Budget erhält).
Eine Milliarde Euro ist für eine denkmalgerechte Instandsetzung dieser Größenordnung ziemlich normal bis wenig, allein in Stuttgart werden gerade für einen Bahnhof 9 Milliarden Euro kalkuliert.
Ich persönlich war vom Brand geschockt und war froh, aktuelle Informationen zum Brand erhalten zu können, sehe darin einen der größten Vorteile der modernen Medienlandschaft, kann die Kritik daran insofern nicht nachvollziehen.
Es wurde ja auch nicht infrage gestellt, dass Personen um die Zerstörung Palmyras trauern konnten. Nur das Ausmaß in dem darüber berichtet wird und in dem z.B. Nachrichtenagenturen, Blogger, Influencer und Privatpersonen ihre Trauer auf unterschiedlichsten Kanälen bekunden, nimmt bei Notre Dame doch ganz andere Ausmaße an. Auch stellt doch niemand die Nachrichtenerstattung per se in Frage. Nur hat der Brand von Notre Dame die letzten Tage die Nachrichten doch recht dominiert. Aber ist dieser relevanter als Themen, die dafür in den Hintergrund gerückt sind? Auch die Gelder für den Aufbau: Es mag sein, dass 1 Milliarde für den Aufbau gebraucht werden. Aber das dieses Geld binnen schon 48h von Privatpersonen gespendet wurde ist, soweit ich weiß, ein Novum. Da kann man doch durchaus mal Prioritäten hinterfragen..
Liebe Lisa, eine Milliarde Euro ist nicht normal. Die UNESCO hat ein Budget von 1.8 Milliarden USD für 2018 und 2019. Die USA hat 2018 die UNESO verlassen, die zuvor die größten Beitragszahler waren (22% des Budget in etwa). Die Dimension von Stuttgart 21 mit dem Aufbau einer Notre Dame zu vergleichen macht ebenfalls keinen Sinn. Es wird schon allein ein ganzer Tunnel gebaut, ein Berg durchgraben. Während neben den Bauarbeiten auch gleichzeitig der Zugverkehr noch stattfindet!
Ansonsten bin ich auch mit whataboutism hin und hergerissen. Ich persönlich habe aber fast immer Probleme, wenn durch absurd reiche Personen ein Outcome möglicherweise beeinflusst wird, dass gemeinschaftlich gelöst/erreicht werden soll. Inwiefern erkaufen sich diese Familien ein Mitspracherecht was bei dem Aufbau passieren soll? Wenn einE HistorikerIN sagt, dass etwas eigentlich so gemacht werden soll und sie dann sagen, sieht aber doof aus, ich will das anders?