Warum wir endlich anfangen müssen, Betroffenen von sexualisierter Gewalt zuzuhören!
Triggerwarnung – sexuelle Gewalt, Vergewaltigung
Es war ein lauer Sommerabend, als meine heile Welt erschüttert wurde. Ich saß mit einer Bekannten bei einer Johannisbeerschorle, wir scherzten über schlechte Dates, als mir das Lachen im Halse stecken blieb. Ihre Schilderungen waren keine lustige Anekdote mehr, sondern viel mehr ein Albtraum. „Das war eine Vergewaltigung, das weißt du?“, sagte ich. Sie nickte stumm. „Warum hast du ihn nie angezeigt?“ „Naja, irgendwie ist es einfach passiert. Ich habe auch nicht geschrien, sondern einfach schockiert mitgemacht, eine Anzeige hätte wahrscheinlich auch seine Karriere versaut, und naja, wer hätte mir geglaubt?“ Wo anfangen, wenn das Thema so schrecklich ist, die Wut so groß? Ich atmete tief durch. „Ich glaube dir. Und eine Anzeige hätte dir geholfen – und vermutlich auch den vielen anderen Frauen, die dieser Mann noch treffen wird. Aber ich verstehe dich.“ Sie nickte, wieder stumm. Und ich schwieg diesmal mit.
Ich verstand sie. Ihre Sorgen, ihre Gedanken. Gleichzeitig war ich so wütend. Auf unsere strukturelle Erziehung, die uns Frauen noch immer dazu verleitet, uns selbst in Frage zu stellen, wenn wir Opfer sexueller Gewalt werden. Die Schuld bei uns zu suchen. Und Fragen wie „Was hattest du an?“ zu tolerieren. Wer Opfer sexueller Gewalt wird, ist niemals schuld. Aber ich wusste, die größte Angst, die tief in uns verwurzelt ist, ist, dass man uns nicht glaubt.
Nach #MeToo und #Männerwelten würde man denken, es habe sich etwas verändert. Menschen – Frauen wie Männer – seien sensibilisierter, was sexuelle Gewalt und Übergriffe angeht. Dass wirklich jede Frau, egal wie groß oder klein, wie eloquent oder nicht, selbst wie berühmt oder nicht, betroffen sein kann. Und: Dass auch Männer zu Tätern werden. Auch jene, die wir mögen.
„Jede Frau kennt mindestens eine Frau, die sexuelle Gewalt erlebt hat.
Aber keiner der Männer kennt einen Täter.“
Dieser Satz aus den sozialen Medien ist mir hängengeblieben. Und ärgert mich bis heute. Denn ja, auch in meinem Umfeld schreien die Männer gerne #notallmen und kennen natürlich keinen, der irgendwie übergriffig gegenüber Frauen geworden ist. Kaum zu glauben, oder? Die Zahlen sprechen nämlich eine andere Sprache.
Nach Angaben des Bundesamtes für Justiz werden jährlich 8000 Vergewaltigungen angezeigt. Unterschiedliche Studien kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass sich der Anteil der Frauen, die eine erlebte Vergewaltigung nicht anzeigen, zwischen 95 und 84,5 Prozent bewegt. Das heißt: Nur 5 bis 15 Prozent aller Vergewaltigungen werden angezeigt. Der Rest bleibt im Stillen.
Eine Frau, die öffentlich über sexuelle Übergriffe spricht, kann sich sicher sein: Ihre Aussage wird angezweifelt. Wichtig ist vor allem, was sie anhatte, wann der Vorfall war und wer der Täter sein soll. Oder wie Margarete Stokowski in ihrer Kolumne schreibt: „Das Problem ist: Solange keine Namen genannt werden, gibt es eine breite Öffentlichkeit, die bereit ist zu sagen, wie schlimm es ist, dass Frauen immer noch so viel Gewalt erfahren und dass endlich etwas passieren muss. Sobald allerdings Namen von mutmaßlichen Tätern genannt werden, verschiebt sich die Diskussion auf die Frage, ob hier die Karriere eines unschuldigen Mannes zerstört werden soll.“
Die Idee der #Unschuldsvermutung sollte bitte auch für Frauen gelten: also dass man erst mal davon ausgeht, dass eine Frau NICHT lügt, wenn sie über sexuelle Übergriffe spricht. ?
— Susanne Klingner (@klingnerin) April 8, 2021
Denn der Tenor im Internet ist schnell: „Es gilt die Unschuldsvermutung, bis ein deutsches Gericht seine Schuld bewiesen hat“. „Frauen denken sich oft Vergewaltigung aus, um eine Karriere zu zerstören.“ „Das ist Rufmord.“ „Es gibt immer zwei Seiten einer Geschichte.“ „Da ist wohl jemand sauer, dass Schluss gemacht wurde.“
Mir wird schlecht, wenn ich solche Zeilen lese.
Wir leben in einem Rechtsstaat und so gilt natürlich vor Gericht die Unschuldsvermutung. Aber die gilt genauso auch fürs Opfer.
Indem Menschen von „Rufmord“ oder „Hetze“ sprechen, sehen sie weg. Sie unterstellen der Betroffenen eine Straftat, überlassen sie sich selbst und solidarisieren sich mit dem oder der Täterin oder unterstützen gar sein Schweigen.
Dass #Unschuldsvermutung im öffentlichen Diskurs trendet, dient nicht der objektiven Betrachtung der Tat,sondern der #TäterOpferUmkehr &dazu Erfahrungsberichte Betroffener zu silencen & ihre Erfahrungen in Abrede zu stellen. #metoo Vor Gericht gilt natürlich #Unschuldsvermutung!
— Anastasia Tikhomirova (@athmrva) April 7, 2021
Die Thematik ist eine schwere, denn gerade bei sexualisierter Gewalt gibt es oftmals keine Zeugen. Keine Videobeweise oder Fotos. Viele Frauen haben nach der Tat nicht die Kraft, einen Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen, eine Beweissicherung zu vollziehen – geschweige denn den Täter anzuzeigen. Vor allem, wenn es jemand ist, der einem eigentlich nahe steht. Denn auch hier nochmal zur Aufklärung: Die meisten Vergewaltigungen oder sexuellen Übergriffe finden im Beziehungsumfeld statt. Den Mann hinter dem Busch auf dem Heimweg gibt es, die größere Gefahr lauert aber im eigenen, persönlichen Umfeld.
Die Verurteilungsquote für angezeigte Vergewaltigungen sinkt seit Jahren. 2012 etwa erlebten laut Justizbundesamt nur 8,4 Prozent der eine Anzeige erstattenden Frauen die Verurteilung des Täters. Der Rest der Anzeigen wurde wegen fehlender Beweislast fallen gelassen. Für viele Überlebende eine erneute Traumatisierung, wenn sie sich zu diesem Schritt aufgerafft hatten. Ein Schlag ins Gesicht für die Betroffenen. Ich verstehe jede Frau, die nach einer solchen Tat nur eines will: ihre Ruhe – und sich gegen eine Anzeige entscheidet.
Letztes Jahr begeistert #Männerwelten teilen und jetzt Vorwürfe zu sexueller Gewalt mit „Lynchjustiz“ oder „Unschuldsvermutung“ wegreflexen, ist zynisch und beschämend. Das mindeste, was solche Vorwürfe verdient haben, sind ernsthafte Auseinandersetzungen und Gespräche (1/2)
— Sophie Passmann (@SophiePassmann) April 8, 2021
„Aber es gibt auch die Falschbeschuldigungen, denkt nur an den Fall Kachelmann.“ Uff. Ja, die gibt es. Und der Fall Kachelmann war für alle Frauen (und Männer), die Opfer einer Vergewaltigung werden, fatal. Denn Studien zeigen: Falsche Beschuldigungen sind marginal. „Entgegen der weit verbreiteten Stereotype, wonach die Quote der Falschanschuldigungen bei Vergewaltigung beträchtlich ist, liegt der Anteil bei nur 3 Prozent.“ („Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases across Europe.” Jo Lovett & Liz Kelly (2009)).
Und wenn wir ehrlich sind: Warum sollte sich eine Frau eine Vergewaltigung ausdenken? Die rachsüchtige, sich Vergewaltigungen ausdenkende Frau ist ein Mythos. Der in noch immer viel zu vielen Köpfen existiert. Ähnlich wie Victim Blaming alias „Was hatte die Frau bei der Vergewaltigung an?“ oder „Wenn sie durch den dunklen Park geht, passiert sowas halt.“ Ich möchte in keiner Gesellschaft leben, in der Victim Blaming oder Rape Culture einen Raum bekommen. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der wir den Betroffenen zu allererst einmal zu hören. Und sie nicht in Frage stellen.
1 % aller stattgefunden Vergewaltigungen wird rechtlich belangt, 99 Prozent bleiben straflos
Für mich gibt es keinerlei Gründe, einer Überlebenden nicht zu glauben. Ich glaube erstmal jeder Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Wir leben in einer patriarchalen Struktur, in der nur 8 Prozent aller angezeigten Vergewaltigungen auch wirklich zur Verurteilung führen. Das sind in der Summe aller Vergewaltigungen und der hohen Dunkelziffer nur 1 Prozent. Und jene Frauen, die den Mut haben, sich zu öffnen, öffentlich darüber sprechen, vielleicht sogar rechtlich dagegen vorgehen, erwartet vor allem eines: Unverständnis, Diffamierung und meistens auch noch Victim Blaming.
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Unsere Gesellschaft schützt Täter und Täterinnen. Sie solidarisiert sich mit ihnen, weil man nun wirklich nicht glauben kann, dass der (oder die) so etwas macht. Aber nach all dem True-Crime-Hype sollten wir doch nun wirklich wissen: Man sieht es niemanden an.
Margarete Stokowski schrieb es ganz passend: „Dass sexualisierte Gewalt selten nachgewiesen werden kann, ist ein Problem. Aber die Hauptgefahr ist hierbei nicht, dass haufenweise unschuldige Männer im Knast landen. Die Hauptgefahr ist, dass das öffentliche Misstrauen gegen mutmaßliche Opfer und diejenigen, die den Schilderungen glauben, dazu führt, dass Menschen, die Gewalt erfahren haben, es nicht wagen, darüber zu sprechen, weil sie ahnen, welche Macht ihnen dann entgegenschlagen würde.“
Und da sind wir beim wichtigsten Punkt: Was zwischen zwei Menschen vorgefallen ist, weiß ich nicht. Wissen wir alle nicht. Aber es gibt keinen Grund, der Betroffenen nicht zu glauben, wenn sie sich öffentlich äußert. Und wie es eine Twitterin so großartig sagte: „Der Täter liest eure Verharmlosungen zu sexueller Gewalt übrigens nicht. Aber eure Freund:innen, die sexuelle Gewalt erfahren haben und sich nicht trauen darüber zu reden, lesen es.“ Und das ist das viel größere Problem. Hört den Überlebenden zu – und glaubt ihnen.
Alle Zahlen und Fakten zum Thema Vergewaltigung habe ich von Frauen gegen Gewalt.
3 Antworten zu “Warum wir endlich anfangen müssen, Betroffenen von sexualisierter Gewalt zuzuhören!”
Danke danke danke für diesen Text!
Es bedeutet mir als ehemals Betroffene viel, Solidarität zu erfahren.♥
Ganz viel Mitgefühl für dich <3
Dankeschön ♥