Warum braucht es oft erst den großen Knall, bevor wir uns an die Veränderung wagen?

22. April 2020 von in

Als ich in diesen Tagen wieder einmal viel zu viel Zeit am Handy und somit auf Instagram verbringe, stolpere ich über einen Post einer Münchnerin, die ihren Laden schließt. Nicht, weil die Corona-Krise ihr das Garaus macht, welch ein Glück, sondern weil sie in den vergangenen Wochen zu Hause gemerkt hat, wie sehr sie es liebt, ihre Kinder zu sehen, entschleunigter zu leben, wie schön das Familienleben ist, und wie der Stress der vergangenen Jahre nach und nach von ihr abfällt. Im Video gibt sie zu, dass sie schon länger wusste, dass etwas falsch läuft, doch die Veränderung, die konnte sie erst jetzt gehen, mit der Krise und der Erfahrungswelt, die sie dadurch hatte.

Während ich das Video sehe, freue ich mich für sie. Man sieht selbst über Instagram, wie froh sie ist, ja, wie zufrieden sie ihre Entscheidung macht, wenngleich ihr Herz natürlich am Laden hängt. Doch irgendwann schleicht sich noch ein zweites Gefühl dazu. Ich hadere.

Warum braucht es eine globale Pandemie, ja einen wahr gewordenen Ausnahmezustand, um zu merken, zu erfahren,
wie gut Entschleunigung uns tut?

Wissen wir das nicht schon lange vorher? Warum braucht es oft erst den großen Knall, bevor wir uns an die Veränderung wagen?

Kurz bevor ich mir altklug, eine meiner schlechteren Eigenschaften, eine Meinung bilde, meldet sich meine Erinnerung und tippt mir auf die Schulter. „War das bei dir nicht genauso?“ Tatsache. Ich habe jahrelang zu viel gearbeitet, mich von Stresswoche zu Stresswoche gehangelt und die Auswirkungen trotzdem übersehen, weil mir meine Arbeit ja so viel Spaß machte. Dass ich am Wochenende zu ausgelaugt für Treffen mit FreundInnen war und oft schon sonntags wieder hibbelig am Laptop saß, ignorierte ich. Bis, ja, bis nichts mehr ging. Mich eine Krise in die Knie zwang und ich erstmal nur eines tat: gar nichts mehr.

Schritt für Schritt entschleunigte ich, kam zur Ruhe und bemerkte, wie gut es sich anfühlt, wenn der Kiefer nicht mehr schmerzt – weil man nachts so entspannt ist, dass man nicht mehr beißt. Erst, als ich gefühlt wie ein Häufchen Elend am Boden, beziehungsweise in meinem Fall auf dem Sofa, lag, wusste ich, ich muss etwas verändern.

Das tat ich und lebe bis heute sehr viel entschleunigter und entspannter. Aber es wäre gelogen, dass es nicht Phasen gibt, in denen ich wieder in mein altes Stress-Hamsterrad einsteige. Glücklicherweise merke ich mittlerweile sehr viel früher als vorher, wenn das Rad sich zu schnell dreht.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.
Veränderungen sind ihm unangenehm, ja anstrengend.

Und wir wissen doch auch gar nicht, ob die Veränderung gut ist. Was, wenn wir uns falsch entscheiden und am Ende unser Leben ganz anders ist? Hilfe! Dann doch lieber ein bisschen so weitermachen, ist ja alles gar nicht so schlecht. Bis der große Knall kommt, und man merkt: Öhm, hätte ich auch eher ändern können.

Das reicht vom Jobwechsel, den wir so lange in Gedanken mit uns tragen, und doch erst einen neuen Job suchen, wenn wir schweißgebadet morgens aufwachen oder die Firma pleite geht. Dasselbe Muster durchzieht Beziehungen, von denen Außenstehende schon seit Jahren ahnen, das geht nicht gut, man selbst spürt es und geht trotzdem erst, wenn die Schmetterlinge wegen eines oder einer anderen flattern. Oder wir nehmen Freundschaften, die uns nicht gut tun, von denen wir genervt sind, aber wir halten daran fest, weil „ja, wir kennen uns halt schon so lange“. Trennen können wir uns erst, wenn wir tränenüberströmt anrufen, weil der Freund Schluss gemacht hat und ein „Ja, was soll ich jetzt tun?“ kommt. Erst dann merken wir, Freundschaft bedarf einer neuen Definition.

Veränderungen sind oft schmerzhaft, sie tun weh und fordern uns heraus. Denn wir müssen die Umstände und uns verändern. Wenn wir es aber trotzdem wagen, werden wir belohnt.

Nicht nur, dass wir mit jeder Entscheidung und Veränderung in unserem Leben wachsen und reifen. Nein, wir lernen auch so viel über uns und unser Leben. Wir lernen, dass das, was wir uns ausmalen, der geliebte „Aber was ist, wenn“-Satz, völlig unnötig ist, denn wieder, der Mensch ist ein Gewohnheitstier und gewöhnt sich an alles. Und meistens sind jene Veränderungen, die wir schon lange in uns tragen und nur den letzten Schritt scheuten, positiv. Und wenn nicht? Dann finden wir neue Wege, unsere Entscheidung zu revidieren.

Keine Entscheidung und keine Veränderung bedeutet nur eines: Stillstand.

Nach meiner Krise ging gar nichts mehr und ich schwor mir, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Noch viel mehr auf mein Bauchgefühl zu hören und mich furchtlos in Entscheidungen zu wagen. Ich stellte mir die grundlegenden Fragen: Wie will ich leben? Was erwarte ich vom Leben? Und vor allem: Mit wem will ich leben?

Die Folge: Ich veränderte nicht nur mich und meinen Lebensstil, sondern auch mein Umfeld beruflicher und privater Natur. Denn wie lange Zeit mich etwas schon begleitet, und wie sehr ich mich daran gewöhnt habe, sind längst keine Indikatoren mehr für Dinge, die mir gut tun.

Sicherlich, wir können auf den großen Knall warten. Denn er kommt. Von Zeit zu Zeit immer wieder in unser Leben. Wir können hoffen und beten, festhalten an Dingen, zu denen unser Herz längst auf Wiedersehen gesagt hat. Wir können Angst haben, Sorge, dass Entscheidungen falsch sein könnten.Wir können überlegen, was wir vielleicht eventuell in ein paar Jahren bereuen. Dass die Veränderung gar die falsche ist. Und dass wir ein Zeichen von außen bräuchten, das uns den Weg weist.

Wir könnten. Im Konjunktiv leben – und dabei so viel Schönes verpassen.

Es ist okay, den großen Knall abzuwarten. Wer unsicher ist, muss erst die Erfahrung machen, dass es auch anders geht. Braucht den kleinen Stupser, um den neuen Weg zu beschreiten. Manchmal lohnt es sich aber schon vorher, ganz tief in sich reinzufühlen und zu hören. Auch abseits der Stille einer globalen Pandemie.

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