Von der rosaroten Landleben-Brille und frischen Verliebtheitsgefühlen für die Stadt
Im letzten Frühling saß ich in meiner Küche und schälte Kartoffeln, die ich am Wochenende davor in einer kleinen Holzhütte auf dem Land gekauft hatte. Eine dieser Hütten gleich neben einem Feld, in denen Kartoffeln, frische Eier oder Spargelschälchen vom Bauern zum Mitnehmen bereitstehen, man ein paar Euro in eine Kasse wirft und niemand etwas klauen würde. Das Gefühl von Landidylle hatte mich gepackt, nachdem ich plötzlich jemanden kannte, der nicht in der Stadt wohnte, und meine Zeit immer häufiger mit Wald- und Felderspaziergängen außerhalb meines normalen Viertel-Dunstkreises verbrachte.
„Dieses Landleben, eigentlich schon schön. Vielleicht passt das ja viel mehr zu mir als die Stadt! Ich liebe die Natur, will immer raus, und Ausgehen interessiert mich eh schon ewig nicht mehr“, seufzte ich und blickte liebevoll auf den großen, goldgelben Buschen Raps, den ich wie ein Souvenir von meinem Landbesuch mitgebracht und in die Blumenvase auf den Tisch gestellt hatte.
Ich musste lachen, über mich als Land-Tourist, der in die typische Falle der romantischen Idylle-Brille getappt war. Aber im ersten Lockdown, der plötzlich alles entschleunigte und in dem Spaziergänge in der Frühlingssonne noch Spaß machten, da fühlte es sich plötzlich wirklich naheliegend an: Vielleicht ist auf dem Land alles ein bisschen besser, schöner, sympathischer. Ohne volle U-Bahnen und sich an der Isar drängelnder Menschen, mit Hofläden und friedlichen Wäldern, mit Lebensqualität und Ruhe und ohne zu viel Viruskontakt.
Die Wochen vergingen, das Homeoffice etablierte sich, und plötzlich hörte ich sie überall: Die Landlust. Mein ganzer Bekanntenkreis sprach plötzlich davon. Aufs Land ziehen, das wärs, und irgendwie ist’s auch plötzlich eher möglich. „Wieso tut man sich die Stadt überhaupt noch an? Die Mieten! Der Lärm! Der ganze Stress!“ Die neue Situation, in der sich die physische Bindung an den Arbeitsplatz für viele auflöste, verschob plötzlich die Möglichkeiten. Und auch ich sah mir das Landleben nach und nach ein bisschen genauer an.
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Der zweite Lockdown hat mich in seiner ganzen Tristesse mitgerissen, und ich fühle mich ganz plötzlich auf dem Land doppelt so weit weg vom eigentlichen Leben, dem Alltag vor Corona, als es sich gerade eh schon anfühlt.
Das Landleben hat sich von Träumereien zu einem zweiten Alltag für mich entwickelt: Neben meiner Wohnung in der Stadt gibt es eine zweite Herzenswohnung mit Feldblick, in der ich mich auch ein bisschen wie zu Hause fühle. Ich habe gerade die Möglichkeit, mir den Alltag außerhalb der Stadt mal so richtig anzusehen, ohne gleich wirklich aufs Land zu ziehen. Und ich merke, wie mein Blick darauf mehr Realitäts-Schärfe bekommt. Die romantische Land-Brille ist immer noch ein Stück weit da. Ich liebe die Stille und die Ruhe, die Naturspaziergänge und die Hofläden. Ich liebe es, so oft Felder, Wälder und freien Himmel zu Gesicht zu kriegen, dass ich die Jahreszeiten so intensiv wahrnehme wie noch nie. Ich liebe die Gemütlichkeit der süßen, überschaubaren und nostalgischen Innenstadt, und ich liebe es, Wochenendeinkäufe mit dem Auto zu erledigen. Meine Vorfreude auf einen eigenen Gemüse- und Kräutergarten diesen Frühling ist kaum zu bremsen, genau wie auf das Grillen und in der Sonne liegen auf dem Balkon abseits von Stadtverkehr.
Und doch weiß ich schon jetzt, wovon meine Mitbewohnerin mit ihrem Kennerblick auf mich gesprochen hat: Auf dem Land zu leben hat eben auch seine anderen Seiten. Ohne selbst Autofahren zu können, ist mein Radius plötzlich sehr, sehr klein. „Ach, das ist doch ums Eck“, heißt hier etwas völlig anderes als in meinem Viertel, in dem ich in einem Fußradius von fünf Minuten tatsächlich alles vorfinde, was ich brauche. Die kleinen Konsum-Höhepunkte, die das Lockdownleben in der Stadt noch bietet, sind auf dem Land ganz fern: Ich kann mir hier weder einen Bubbletea ums Eck, noch die besten Falafel, noch einen Döner bei Türkitch holen. Und das Gravierendste: Ich laufe hier nur sehr selten jemandem über den Weg, den ich kenne – in München brauche ich nur einen Isarspaziergang zu machen, und begegne selbst im Lockdown Bekannten, die nicht in meinem engsten Kreis sind – eine Sache, nach der ich mich gerade wahnsinnig sehe.
All diese Dinge waren für mich in den letzten Jahren selbstverständlich. Ich war sogar genervt, überfordert vom Überangebot und dem Tempo in der Stadt. Vor einem Jahr, als alles losging mit dem Runterfahren, gab es für mich tatsächlich keine schönere Vorstellung, als sich fern von all der Hektik in der Natur einzuigeln, sich selbst runterzufahren und endlich Entspannung einkehren zu lassen.
Jetzt, ein Jahr Zwangsentschleunigung später, wünsche ich mir für den Moment nichts weniger, als in einem Häuschen im Nirgendwo zu sitzen.
Mein Lust-auf-Entschleunigung-Pendel ist gerade definitiv in die andere Richtung umgeschwungen, und ich hätte nicht gedacht, dass das nochmal passieren würde. Und sobald das normale Leben wieder eingekehrt ist, könnte meine Sehnsucht nach dem ruhigen Landleben auch wieder neue Triebe bekommen. Aktuell bin ich vor allem eins: Wahnsinnig dankbar, beide Welten für mich ausprobieren und ausloten zu können. Und auch dankbar dafür, mein altbekanntes Stadtleben ganz neu schätzen zu können. Die Möglichkeit, viel Zeit außerhalb zu verbringen, hat meine Liebe zur Stadt ganz neu befeuert. Und wirklich komplett aufs Land zu ziehen, könnte ich mir gerade definitiv nicht vorstellen.
Die Landlust meines Bekanntenkreises ist mittlerweile auch etwas abgeflaut. Doch einige haben den Schritt auch wirklich gewagt, die neue Homeoffice-Situation zum Anlass genommen, das Leben ganz anders zu gestalten. Häuser und Tinyhouses ins Auge zu fassen, nur noch einmal in der Woche oder einmal im Monat im Office in der nächsten Stadt zu sein, und einen neuen Lebensmittelpunkt zu finden. Welche Möglichkeiten die neue Flexibilität für uns alle schaffen wird, ist wahnsinnig spannend. Und auch, welche neuen Konzepte des vielleicht sogar kollektiven Landlebens neben dem Einfamilienhaus daraus entstehen werden.
4 Antworten zu “Von der rosaroten Landleben-Brille und frischen Verliebtheitsgefühlen für die Stadt”
Sehr schöner Artikel, danke hierfür! Ich glaube, sobald Kinder da sind, stellt man sich dieser Frage (erneut). Da hat das Landleben ganz andere Vorteile aber natürlich auch Nachteile, das muss jeder individuell beurteilen. Ich denke aber hauptsächlich ist die Frage der Community wichtig. Alleine ein Haus auf dem Land macht nicht glücklich. Aber was ist, wenn man tolle Nachbarn und Glwichgesinnte in unmittelbarer Nähe hat? Ich denke, dass kann dann der gute Italiener schon ersetzen. Aber man braucht dafür auch verdammt viel Glück, mehr als in der Stadt, wo sich Gleichgesinnte öfter über den Weg laufe . Wenn ich solch eine Community im Dorf nicht hätte, würde ich sofort wieder in die Stadt ziehen – mit 3 Kindern in eine 3 Zimmer Wohnung…..
Ob und wie viele Gleichgesinnte man um sich hat, ist definitiv ein sehr ausschlaggebender Faktor. Wie hat sich das bei dir denn ergeben, so viele Leute, mit denen du auf einer Wellenlänge bist, in deiner Gegend zu kennen? Wohnst du dort schon immer/lange, oder hast du aktiv Kontakt aufgenommen?
Ich bin selbst auch als Kind in einer Wohnung in einem Innenstadtviertel aufgewachsen, als ich 10 war, sind wir in ein Haus etwas weiter raus gezogen. Und ich persönlich kann nur sagen: Ich habe damals als Kind die Innenstadt total vermisst. Deshalb weiß ich gar nicht, ob es für jedes Kind unbedingt auf dem Land schöner ist. Die Platz- und Mietkostenfrage ist aber natürlich ein unschlagbares Argument gegen die Stadt. Das Thema auf jeden Fall so viele Facetten und ist super individuell, ich bin momentan auf jeden Fall überrascht davon, wie meine Liebe zur Stadt gerade mehr denn je hervorkommt, nachdem ich eine Zeit lang dachte, das Land und ich, das würde vielleicht mehr passen :)
Hey Milena, du hast den Artikel sehr schön geschrieben!
Ich bin auch in einem eher kleinen Ort (allerdings nicht direkt auf’m Land) aufgewachsen und kann sehr gut verstehen, was deine Mitbewohnerin im ersten Lockdown meinte. Tatsächlich habe ich manchmal das Gefühl, es ist beides. Als ich weggezogen bin, hatte ich schon oft Heimweh. Wenn ich dann aber eine Weile in der Heimat bin, fehlt mir die Stadt. Es ist wirklich schwierig für sich festzustellen, wo man eher leben möchte und bin daher auch sehr gespannt, wie das bei uns allen nach der Pandemie weitergeht. Welche Werte wichtiger werden. Dass es wichtig ist, mit den Menschen vor Ort auf einer Wellenlänge zu leben, ist auf jeden Fall sehr wahr! Allerdings habe ich auch gemerkt, dass man seinen Wohnort nicht davon abhängig machen sollte. Zumindest ist das mein Gefühl. Denn ich weiß im Voraus nie, wie sich Freundschaften über die Jahre entwickeln und es ist schön, wenn man sich oft treffen und austauschen kann. Wenn einen die Situation an sich aber eher unglücklich macht, weil das Herz für die Stadt/fürs Land schlägt, dann fühlt man sich immer irgendwie allein. Puh, auf jeden Fall keine leichte Entscheidung!
Ich freu mich auf mehr zu dem Thema und wünsche dir, dass du das für dich richtige findest. :)
Das stimmt natürlich, ich glaube, wenn die Sehnsucht nach Natur, Ruhe und zum Beispiel auch viel Platz besonders groß ist, kann man für die anderen Faktoren auch gute Lösungen finden. Gerade ist bei mir, wahrscheinlich durch den langen Lockdown, das Bedürfnis nach all den Erlebnissen und der Inspiration, die der Trubel der Stadt so zu bieten hat, einfach total groß geworden – während dieses Bedürfnis vor der Pandemie kaum noch da war. Man sehnt sich ja oft nach den Dingen, die man gerade nicht haben kann, also bin ich gespannt, wie sich diese Gefühle auch wieder verändern werden, wenn das „normale Leben“ mal wieder zurück sein sollte :) Wie du sagst: Es wird total spannend zu beobachten, was die Pandemie langfristig mit uns allen macht, und welche Werte danach bei einigen anders sein werden als davor, oder als währenddessen.