(Un)erwachsen: War jemand schon mal richtig glücklich?

5. August 2020 von in
Lisa Ludwig arbeitet als Journalistin für Politik und Popkultur in Berlin. Sie ist Single, Anfang 30 und besitzt weder Küchenmaschine noch private Altersvorsorge. Dafür aber mehrere Spielkonsolen. Ist das noch jung und aufregend oder doch schon ein alternatives Lebensmodell? In ihrer Kolumne „(Un)erwachsen“ widmet sich Ludwig dem gesellschaftlichen Graubereich zwischen Kater und Kinderwunsch. In dieser Folge widmet sie sich dem großen (und werbewirksamen) Gefühl des Glücklichseins und fragt sich: Geht das überhaupt?
 „(Un)erwachsen“ von Lisa Ludwig ist eine VOGUE.de Kolumne

2020 ist ein gutes Jahr, um sich zwischenzeitlich aus der Realität zu verabschieden. Draußen toben Corona, die Klimakrise und der schier aussichtslose Kampf gegen Rassismus und Rechtsradikale. Drinnen schließen uns diverse Streaming-Anbieter und Videospiele in ihre leicht nach Chips riechenden Arme. Die perfekte Flucht in eine Welt, die einfacher und gleichzeitig so viel befriedigender ist.

Die klassische fiktive Heldenreise funktioniert in der Regel so: Ein Ereignis wirft eine Person komplett aus der Bahn, sie muss mehrere Hindernisse überwinden, lernt dabei einiges über sich, und am Schluss wird alles gut, sonst wäre all die harte Arbeit ja vollkommen umsonst gewesen. Im Film wird sich zu lauter Popmusik beseelt vor lauter Glück in die Arme gefallen. Ende gut, alles gut.

In der Realität habe ich noch nie Menschen gesehen, die so glücklich sind. Nie. OK, das echte Leben hat keinen Soundtrack, keine Schnitte und die Kulisse stammt meist aus einem schwedischen Einrichtungshaus. Aber ist es nicht trotzdem genau diese Art von Glück, diese Art von Happy End, die uns allen als Ziel unseres Seins verkauft wird?

Werbung sagt: Glück ist eine frische Tasse Kaffee am Morgen in der neuen Einbauküche. Perfekte Haut dank chemischem Peeling. Eine Woche Cluburlaub auf Mallorca mit Sangria-Flatrate. Absurd dick aufgetragener Frischkäse auf einer Scheibe Roggenmischbrot. Die neue Smartwatch, durch die man sich ein kleines bisschen weniger alleine fühlt, weil sie einen in regelmäßigen Abständen fragt, ob man noch lebt. Nichts davon ist umsonst, aber deutlich einfacher zu bekommen als, sagen wir mal, ein Tinder-Date, das nicht ausschließlich über sich selbst spricht. Aber wenn das stimmt, warum gibt es dann so viele Filme, Serien, Reality-Shows, Bücher über reiche Menschen?

Werbung sagt: Glück ist eine frische Tasse Kaffee am Morgen in der neuen Einbauküche. Perfekte Haut dank chemischem Peeling. Eine Woche Cluburlaub auf Mallorca mit Sangria-Flatrate.

Popkultur sagt: Glück ist, die große Liebe finden und den Rest des Lebens mit ihr verbringen. Zum ersten Mal das eigene Kind in den Armen halten. Freundinnen haben, auf die man sich in jeder Lebenslage verlassen kann. Die Antithese zum Alleinsein. Aber wenn das stimmt, warum sind zwischenmenschliche Beziehungen dann so verdammt kompliziert?

Selbsthilfe-Ratgeber und Life-Coaches sagen: Glück ist Selbstliebe durch Selbstoptimierung. Zuerst einmal an sich denken, sich selbst etwas wert sein und sich das beweisen, indem man so lange Sport treibt und die eigene Ernährung anpasst, bis man genau so aussieht, wie Leute eben aussehen, die in unserer Gesellschaft als liebenswert gelten. Schließlich kann niemand einen lieben, bevor man sich nicht selbst liebt, und nur in einem gesunden Körper lebt ein gesunder… Nein, sorry, das waren die Nazis. Aber wenn das stimmt, warum besteht das große Finale in Til-Schweiger-Filmen dann nicht aus einer einzelnen durchtrainierten Person, die sich strahlend den Schweiß von der faltenfreien Stirn wischt, während sie sich in ihrer Single-Wohnung einen Spinat-Smoothie mixt?

In den USA ist das “Streben nach Glückseligkeit” als unabstreitbares Recht aller Menschen in der Unabhängigkeitserklärung aufgeführt. Was zeigt, wie leer diese Phrase eigentlich ist. “Sie haben das Recht zu versuchen, glücklich zu werden” – das ist nicht empowering, das ist zynisch. Die Jagd nach dem unerreichbaren Glück hält uns in Bewegung. Bringt uns dazu, immer wieder über unsere eigenen Grenzen hinauszugehen, zu arbeiten, bis wir uns Burnout-bedingt krankschreiben lassen und den Kolleginnen erzählen, wir hätten Grippe. Ist in unserer Leistungsgesellschaft schließlich weniger peinlich.

“Sie haben das Recht zu versuchen, glücklich zu werden” – das ist nicht empowering, das ist zynisch.

Natürlich empfindet man Freude, war mal verliebt, hatte das Gefühl, dass gerade alles ziemlich OK läuft. Aber ist das Glück? Und wenn es das Glück ist, wonach wir alle streben, sollte es sich dann nicht irgendwie gewaltiger anfühlen und länger halten? Wenn wir noch nicht in Zeitlupe zu einem Song von Taylor Swift tanzen während die Credits unseres Lebens ablaufen, haben wir eben noch nicht genug dafür getan, glücklich zu werden. Vielleicht hilft es, wenn wir zur Überbrückung eine neue Mascara kaufen?

Ich habe da eine Theorie: Es liegt nicht an uns, wenn wir das Gefühl haben, noch nie wirklich glücklich gewesen zu sein. Das große Glück gibt es gar nicht. Zumindest nicht in der Form, in der es uns jahrelang vermittelt wurde.

Als ich meinen ersten festen Job im Journalismus bekommen habe, war ich unglaublich glücklich. Direkt nach dem Studium eine unbefristete Festanstellung und jeden Tag das machen, was ich am besten kann – schreiben. Jetzt wird alles gut, dachte ich. Jetzt bin ich endlich glücklich, ganz ohne depressive Episoden und der Angst, zu versagen. Fünf Jahre später habe ich gekündigt. Glücklich war ich da schon lange nicht mehr.

Glück ist keine Endstation, Glück ist ein Zwischenhalt mit gutausgestattetem Bahnhofskiosk.

Die Sache mit dem Glück ist nämlich: Glück ist keine Endstation, Glück ist ein Zwischenhalt mit gutausgestattetem Bahnhofskiosk. Glück ist die Adoption eines Tierheimhundes. Ein Videospiel, das einen berührt. Eine Gehaltserhöhung, die zeigt, wie sehr einen das Unternehmen schätzt. Eine Fahrt durch die Wüste, deren Leere einen zum ersten Mal seit Jahren wieder richtig atmen lässt. Glück ist, wenn es sich für einen Moment so anfühlt, als würden sich alle zerbrochenen Teile in einem zusammensetzen. Dann ist der Augenblick vorbei – und man macht weiter. Auf zum nächsten High in der ewigen Tretmühle des Seins.

In dieser Erkenntnis liegt auch ein gewisser Trost: Statt einem unerreichbaren Gefühl nachzujagen, können wir uns auf die kleinen Momente konzentrieren, die alles ein bisschen erträglicher machen. Ein Film, eine Serie, ein Videospiel haben ein Happy End, weil sie dann aufhören, wenn alles gut ist. Doch das Leben mit all seinen Hochs und Tiefs dauert länger als 90 Minuten, fünf Staffeln oder mehrere hundert Stunden im Online-Modus. Wenn wir Glück haben.

Hier geht’s zur letzten Folge der Kolumne „Unerwachsen“

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4 Antworten zu “(Un)erwachsen: War jemand schon mal richtig glücklich?”

  1. Hey. Ich finde es gut, dieses – allem anderen scheinbar übergeordnete – Glücksdings mal in Frage zu stellen! Lese-Empfehlung: Edgar Cabanas und Eva Illouz „Das Glücksdiktat und wie es unser Leben beherrscht“.

  2. In meinem Empfinden ist Glück nur eine Momentaufnahme, nicht „das grosse Glück“, sondern glückliche Momente, die immer und überall stattfinden können, aber „vergänglich“ sind. Sie können kurz sein, oder auch mal über eine längere Phase, man kann sie aber nicht erreichen oder erzwingen. Realistischer erstrebenswert finde ich „Zufriedenheit“. Dies klingt zunächst mal banal und etwas langweilig, mir gefällt dieser Begriff, denn er hat für mich eine entspannte Bedeutung. Für mich hat Zufriedenheit, im Gegensatz zu Glück, nicht den Anspruch an etwas Ultimatives, Extremes, Perfektion. Zufrieden zu sein ist machbar, da kann man auch selber etwas dafür tun, es beinhaltet die sogenannte „Selbstliebe“ (welche Definition auch immer man dafür verwenden möchte), Ausgeglichenheit, gute Beziehungen und vieles mehr – aber auch phasenweise Negatives wie Stress, schlechte Laune, Gewichtsschwankungen etc.

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