(Un)erwachsen: Frauen, die auf tote Balkonpflanzen starren
Lisa Ludwig arbeitet als Journalistin für Politik und Popkultur in Berlin. Sie ist Single, Anfang 30 und besitzt weder Küchenmaschine noch private Altersvorsorge. Dafür aber mehrere Spielkonsolen. Ist das noch jung und aufregend oder doch schon ein alternatives Lebensmodell? In ihrer Kolumne „(Un)erwachsen“ widmet sich Ludwig dem gesellschaftlichen Graubereich zwischen Kater und Kinderwunsch. In dieser Folge geht es um den Kult des (Balkon-)Pflanzenziehens und ob dieser vielleicht doch eine Berechtigung hat.
Der Text erschien zuerst auf Vogue.de
Seitdem ich denken kann, habe ich einen Traum: Ich bekomme etwas anvertraut – ein Tier, ein Baby, eine Pflanze, egal was. Hauptsache, es lebt. Doch dann passieren Dinge, ich habe zu tun, vergesse ganz, dass da etwas Lebendes auf mich angewiesen ist. Und es stirbt. Ich halte es in meinen Armen und da ist nichts mehr, was ich tun kann. Ich habe ein Leben ausgelöscht.
Dann wache ich schweißgebadet auf und bin einmal mehr erleichtert, dass da nichts ist in meiner Wohnung, was ich aus Versehen töten kann. Außer mich selbst.
Ich bin mit Tieren aufgewachsen. Es gibt Tage, an denen es mir beinahe körperlich wehtut, keinen Hund mehr zu haben. Aber ganz ehrlich: Den Appeal von Pflanzen habe ich nie verstanden.
Für die wirklich geilen Topfpflanzen braucht man ein überdimensioniertes Loft und keine Zwei-Zimmer-Wohnung. Blumensträuße sehen ungefähr eineinhalb Tage schön aus, bevor sie eingehen – was eine ziemlich passende Metapher für die romantischen Beziehungen meines bisherigen Lebens ist. Balkonpflanzen existieren ausschließlich, um vor Nachbarn damit anzugeben, wie heroisch man sich dem Bienensterben in Metropolregionen entgegenstellt. Und diese verzweifelten Versuche, Gemüse in winzigen Töpfen heranzuziehen? Come on! Ich habe noch nie, NIE!, mitbekommen, wie sich jemand die drei geernteten Cocktailtomaten triumphal in den Mund geworfen hat, um anschließend schmatzend auszurufen: “Wow, der komplette Sommer Reifezeit hat sich für diesen einen Moment wirklich gelohnt!”
Blumensträuße sehen ungefähr eineinhalb Tage schön aus, bevor sie eingehen – was eine ziemlich passende Metapher für die romantischen Beziehungen meines bisherigen Lebens ist.
Doch dann kam Corona, und damit auch Wochen und Monate, in denen ich meine Wohnung nur verlasse, wenn es zwingend notwendig ist. Eigentlich ist das OK für mich, wozu sonst habe ich als erwachsene Frau mehr Spielekonsolen als Finger pro Hand? Aber: Man kann nur eine bestimmte Zeit auf einen Balkon mit rissigen Betonwänden und Bierflaschen voller Kippenstummel starren, bevor der Abgrund… Entschuldigung, der Balkon, zurückstarrt.
Also habe ich eine folgenschwere Entscheidung getroffen: Wenn ich den Sommer schon zu Hause verbringen muss, dann soll es da zumindest wohnlich sein. Und dazu gehören Pflanzen.
Ich habe meine Angst vor den verachtenden Blicken von Baumarktmitarbeitern überwunden, teure Bio-Blumenerde, Samen und wertige Plastikkübel gekauft, und sie mehrere Kilometer nach Hause geschleppt. Ich habe Samen in die teure Bio-Blumenerde gedrückt, ordentlich Wasser draufgekippt und war bereit, am nächsten Tag zu ersten grünen Knospen aufzuwachen. Stattdessen passierte… nichts.
Tag für Tag gieße ich, nur um weiter frustriert auf dunkle, tote Erde zu starren. “Wächst schon was?”, fragen mich Freundinnen regelmäßig, selbst im Besitz von dutzenden, wild wuchernden Pflanzen. Ihre Besorgnis erscheint mir wie blanker Hohn. Natürlich wussten sie es vorher besser. Natürlich hätte ich fertige Pflanzen kaufen und sie einfach umtopfen sollen. Ich bin eine menschgewordene “Bei mir sterben selbst Plastikpflanzen, rofl!”-StudiVZ-Gruppe, unfähig, Leben aufrechtzuerhalten – geschweige denn, es überhaupt erst in diese Welt zu setzen. Und das, obwohl ich alt genug bin, um noch zu wissen, was eine StudiVZ-Gruppe ist.
Ich bin eine menschgewordene “Bei mir sterben selbst Plastikpflanzen, rofl!”-StudiVZ-Gruppe
Wie kann es sein, dass überhaupt irgendetwas in freier Natur wächst, frage ich mich schließlich verzweifelt – kurz davor, das Experiment Balkonpflanzen abzubrechen und aus Trotz hässliche Dekolichter in die Töpfe zu stecken. Doch dann passiert es: Kleine grüne Halme bahnen sich ihren Weg durch die überteuerte Bio-Erde Richtung Licht. In meiner Brust wird es warm. Ich bin bereit, alles dafür zu tun, dass diesen kleinen Babypflänzchen nichts passiert. Fühlt es sich so an, Mutter zu werden?
Jeden Morgen wachsen die Pflanzen ein kleines bisschen mehr, irgendwann öffnen sich die ersten Blüten. Schließlich wage ich etwas ganz Verrücktes und stecke eine Cocktailtomate aus dem Supermarkt in die Erde. Wenige Tage später wuchert sie grün in den Himmel. Ich fühle mich wie Demeter oder Freya oder irgendeine andere Göttin, die in einer polytheistischen Religion für das Thema Fruchtbarkeit und Ackerbau zuständig ist und mir nicht unter den ersten drei Suchergebnissen angezeigt wurde, als ich “Göttin Fruchtbarkeit” bei Google eingegeben habe.
Stolz verschicke ich Nahaufnahmen meiner Blumenkästen an Freunde und Familie – als wäre ich eine naturliebende Frührentnerin, die sich im Aldi-Sonderangebot eine Spiegelreflexkamera gekauft hat. Männer, die auf Tinder-Fotos ihre Hauspflanzen umarmen, rufen in mir keine heftige Abscheu mehr hervor, sondern lassen mich nachsichtig lächeln. Wir sind jetzt eine Familie, eine Pflanzenfamilie. An meinen Albtraum habe ich lange nicht mehr gedacht.
Doch dann ändert sich etwas. Die Pandemie scheint weniger dringlich, Menschen trauen sich wieder, ihre Wohnungen zu verlassen. Die Hitze in Berlin, besonders in meiner Wohnung unterm Dach, wird unerträglich. Ich brauche Urlaub – und beschließe, für mehrere Tage nach Bayern zu fahren. Sorgfältig gieße ich meine Pflanzen ein letztes Mal und stelle sie in den Schatten. Die schaffen das, denke ich. Schließlich war ich schon im Death Valley und kurz bevor alles so richtig tot wurde, habe ich da auch den ein oder anderen Busch gesehen.
Als ich fünf Tage später zurückkomme, ist auf meinem Balkon nichts mehr, nur Tod. Die Tomatenpflanze tut nicht einmal mehr so, als würde sie irgendetwas Essbares produzieren wollen. Die Minze ist zu tiefschwarzem Gestrüpp zusammengetrocknet. Und die pflegeleichte Blumenmischung sieht aus, als wäre sie mit einem Flammenwerfer traktiert worden.
Wie zur Hölle kann überhaupt irgendjemand
Verantwortung für jemand anderen übernehmen?
Ich schaffe das nicht einmal bei Basilikum!
Nachts warte ich darauf, wieder von verblühten Pflanzen, verhungerten Tieren, fallen gelassenen Babies zu träumen. Aber der Albtraum kommt nicht. Wozu auch? Die Unfähigkeit, irgendetwas am Leben zu erhalten, ist schließlich längst Realität geworden. Wie zur Hölle kann überhaupt irgendjemand Verantwortung für jemand anderen übernehmen? Ich schaffe das nicht einmal bei Basilikum!
Doch dann regnet es. Fast so, als würde das Jugendamt eingreifen, um meinen Pflanzenkindern das zu geben, was sie brauchen. Und am nächsten Tag ist alles anders.
Plötzlich ist da wieder Leben. Die pflegeleichte Balkonblumenmischung scheint noch nicht aufgegeben zu haben! Ich gieße weiter, kaufe hochwertigen Dünger, freue mich über jedes kleine Blättchen, das sich zwischen den vertrockneten Überresten seiner grausam verbrannten Geschwister hervorreckt. Und plötzlich wird mir klar, warum mir so viele Menschen jahrelang mit ihren Topfpflanzen auf den Sack gegangen sind.
Pflanzen bringen einem Demut bei.
Vor dem Leben, aber auch vor der eigenen Unfähigkeit.
Pflanzen fordern viel, für Pflanzen muss man Verantwortung übernehmen. Aber sie verzeihen auch. Pflanzen bringen einem Demut bei. Vor dem Leben, aber auch vor der eigenen Unfähigkeit. Vor allem aber sind Pflanzen etwas, worauf man auch als Großstadtbewohnerin mitten im Betondschungel noch stolz sein kann. Man hat im Rahmen der eigenen überschaubaren Möglichkeiten etwas geschaffen, man hat Leben geschenkt. Und im Gegensatz zu, sagen wir mal, einem Kind, kann man es manchmal sogar essen!