(Un)erwachsen: Ein Liebesbrief ans Spazierengehen – oder die Rentnerisierung des Abendlandes
Lisa Ludwig arbeitet als Journalistin für Politik und Popkultur in Berlin. Sie ist Single, Anfang 30 und besitzt weder Küchenmaschine noch private Altersvorsorge. Dafür aber mehrere Spielkonsolen. Ist das noch jung und aufregend oder doch schon ein alternatives Lebensmodell? In ihrer Kolumne „(Un)erwachsen“ widmet sich Ludwig dem gesellschaftlichen Graubereich zwischen Kater und Kinderwunsch. In dieser Folge geht es um ihre plötzlich entfachte Liebe für Stadtspaziergänge – und warum sie dafür sorgen, dass wir bei Verstand bleiben.
Dieser Text von Lisa Ludwig erschien zuerst auf Vogue.de
Vor ein paar Jahren gab es gefühlt jede zweite Woche einen Artikel, der empört verkündete: Millennials sind Spießer! Die Leute, die mit Britney, Sailor Moon und Super Nintendos aufgewachsen sind, sollen also nicht nur dutzende Industriezweige “getötet” haben (eine Behauptung, die so überzogen ist, dass sie zum Meme wurde) – sie schaffen es gleichzeitig auch noch, zu angepasst und langweilig zu sein. Zumindest in den Augen der Boomer, die sich nach wie vor für Punk und revolutionär halten, weil sie in den 70ern mal einen Joint in der Hand hatten.
Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2020 und statt mit Flugtaxis durch futuristische Metropolen mit sexuell konnotierten Neon-Reklamen an jeder Hauswand zu gleiten (oder wie sich ältere Leute sonst so die Zukunft vorgestellt haben), scheint sich die nicht mehr ganz so junge Problem-Generation nicht mehr nur der ironischen Spießigkeit, sondern gleich der kompletten Rentnerisierung verschrieben zu haben.
Unfähig, Dinge zu tun die wirklich Spaß machen, backen Menschen in Halbquarantäne und Lockdown-Light Brot oder fangen an, Kissenbezüge zu besticken. Vor allem aber wird spazierengegangen. Mal in Gruppen, mal alleine, in jedem Fall aber in den wenigen Stunden, in denen es aktuell noch hell ist. Wer in seiner Corona-App den Highscore für die meisten Risikobegegnungen an einem Tag brechen möchte, muss in einer deutschen Großstadt seiner/ihrer Wahl zu Spaziergang-Stoßzeiten nur mal kurz die Wohnung verlassen. Und das ist kein Vorwurf: Schließlich sind stundenlange Spaziergänge schon seit Monaten das Einzige, was mich davon abhält, ununterbrochen zu schreien.
Als Kind und Teenager habe ich Spazierengehen gehasst
Das war nicht immer so, als Kind und Teenager habe ich Spazierengehen gehasst. Es war das, was Erwachsene nach größeren Essen machen wollen, um “die Verdauung” anzuregen. Interessanterweise aber nur, wenn Besuch da ist – als wolle man nicht seinem Darm, sondern vor allem anderen Leuten etwas beweisen. Ein anderer Grund für Menschen Ü30, sich mal ergebnisoffen “die Beine zu vertreten”, war der Besuch besonders stressiger Verwandtschaft. Beim Spazierengehen kann man über das Wetter, Baustellen oder albern aussehende PassantInnen sprechen, im Zweifelsfall für einige wenige wertvolle Minuten auch mal gar nichts sagen, weil man so ergriffen von einem Reh am Horizont oder vollgetaggten Parkbänken ist. In den eigenen vier Wänden hingegen steigt die Wahrscheinlichkeit frappierend, sich für den eigenen Lebensstil rechtfertigen zu müssen – wenn der gruselige Uronkel nach dem dritten Bier nicht gerade wieder den zweiten Weltkrieg relativiert.
Für mein junges, egozentrisches Ich war Spazierengehen hingegen eine Qual, unnötig langsames Herumschlendern, mit dem ich davon abgehalten wurde, die Dinge zu tun, die wirklich Spaß machen
Für mein junges, egozentrisches Ich war Spazierengehen hingegen eine Qual, unnötig langsames Herumschlendern, mit dem ich davon abgehalten wurde, die Dinge zu tun, die wirklich Spaß machen: Fernsehgucken, Computerspielen, aus dem Internet ausgedruckte Eminem-Texte mit dem Langenscheidt-Lexikon meiner Eltern ins Deutsche übersetzen. Hauptsache drinnen sein. Ziellos draußen herumlaufen war für mich nur vertretbar, wenn es darum ging, den Hund rauszulassen.
Rund 15 Jahre später spielt sich pandemiebedingt nahezu alles, was ich tue, in meiner Wohnung ab. Wenn ich nicht gerade beruflich vor meinem Computer sitze, liege ich privat vor einem anderen Bildschirm. Was mein introvertiertes Teenager-Selbst geil gefunden hätte, macht mein deutlich weniger sozialphobes Erwachsenen-Ich komplett wahnsinnig. Ich muss raus, frische Luft atmen, mich bewegen.
Eine Antwort zu “(Un)erwachsen: Ein Liebesbrief ans Spazierengehen – oder die Rentnerisierung des Abendlandes”
[…] 25. Februar 2021 von Vogue Germany in Popkultur Die in Berlin lebende Journalistin Kemi Fatoba beschäftigt sich mit den Themen Identität und Repräsentation – vor allem aus der Perspektive Schwarzer Menschen. „Schwarz mit großem S“ ist eine Kolumne über die Lebensrealität Schwarzer Menschen. Es ist außerdem eine politische Selbstbezeichnung, die verdeutlichen soll, dass es sich um kollektive Erfahrungen von Menschen afrikanischer und afro-diasporischer Herkunft handelt. In diesem Text geht es um die Politisierung jedes Lebensbereichs – und um Selfcare. Der Artikel von Kemi Fatoba erschien zuerst auf Vogue.de. […]