Über die Schönheit von Widersprüchen und wieso wir alles gleichzeitig sein können

28. Februar 2023 von in

Die Welt ist voller Widersprüche. Ist das nicht wunderbar? Nein, würden die meisten jetzt sagen. Widersprüche sind in der Regel negativ belastet, sie verunsichern uns: „Du widersprichst dir!“, ist ein Vorwurf, der sofortiges Unbehagen in uns auslöst. Doch weshalb fühlen wir uns von Widersprüchen so getriggert? Liegt das daran, dass wir selbst zu sehr in Schubladen denken? Dabei könnten wir unsere Gegensätze doch nutzen, um neue Wege zu gehen und all unsere Facetten zu entdecken. 

Meine heute intensiven Gedanken zum Thema haben sehr oberflächlich begonnen: Mit meinem äußerst widersprüchlichen Musikgeschmack. Meine Playlist reicht von Edith Piaf bis hin zu Haftbefehl. Ja, würde jemand so mit mir (oder mit jemand anderen) sprechen, wie die Rapper in ihren Musikstücken rappen, würde ich wahrscheinlich meine Fassung verlieren. Aber beim Shoppen genieße ich manchmal auch die dröhnenden Bässe und die äußerst fragwürdig zusammengesetzten Worte, die durch die Kopfhörer in mein Ohr gelangen, während ich nach Pyjamas suche, die man weit jenseits der 30 tragen sollte. Ist das widersprüchlich? Absolut. Ist das schlimm? Auf keinen Fall!

Wieso wir Schwarzweißdenken (endlich) auflösen sollten

Wir sind nicht nur lieb, wir sind nicht nur gutgelaunt, wir sind nicht nur eines. Dafür können wir alles sein. Es kann passieren, dass wir an einem Tag, mehrere Menschen treffen und all diese würden uns am Ende des Tages unterschiedlich beschreiben. Zwischen all den Aussagen können extreme Widersprüche herrschen. Während die eine Seite uns als offen und herzlich beschreibt, kann die andere und als verschlossen und schüchtern wahrnehmen. Und alle haben in irgendeiner Weise recht. Es ist ein Mix aus dem, was wir der jeweiligen Person zeigen und dem, was sie daraus machen. Das ist absolut menschlich. 

Wenn die Widersprüche sich nicht gerade im rechtlichen oder politischen Rahmen befinden und wichtige weltweite Entscheidungen betreffen, haben sie eine absolute Daseinsberechtigung. Unvorhersehbares kann auch mal guttun, wir müssen uns nur trauen.

Wer sagt eigentlich, dass wir nicht ALLES sein können?

Mir persönlich begegnet solch ein Konflikt mit Widersprüchen oftmals im Alltag. „Du bist Vegetarierin, dann darfst du dies oder das nicht“, abgesehen davon, dass das für mich nicht nach einem plausiblen Widerspruch klingt – wer sagt, was ich darf? – frage ich mich immer, was so eine Aussage bezwecken soll und wie uns diese Bewertung weiterbringen kann. Ich möchte an manchen Tagen neue Menschen kennenlernen und socializen, bis der Arzt kommt. Am nächsten Tag möchte ich von all dem vielleicht nichts mehr hören. Aber muss das von Außen ständig bewertet werden?

Wir Menschen fühlen uns oftmals von Gegensätzen angegriffen, die uns nicht einmal selbst betreffen. Ich stelle jetzt mal in den Raum, dass es zum Großteil daran liegt, dass wir Sicherheit vergöttern. Widersprüche beirren uns auf den ersten Blick und nehmen uns das warme Gefühl von Klarheit. Dabei kann das auch ziemlich aufregend sein.

Innere und äußere Widersprüche

Wenn wir in uns selbst reinhören und Widersprüche erkennen oder uns selbst hinterfragen, kann es uns oftmals frustrieren. Haben wir uns noch nicht gefunden? Viel besser wäre jedoch die Frage: Was, wenn diese inneren Widersprüche einfach offenlegen, wie vielfältig wir sind?

Theorie und Realität dürfen sich manchmal unterscheiden. Es gibt immer noch einen Unterschied zwischen unserem Inneren, mit dem wir ganz allein kommunizieren und dem Äußeren, das wir in die Welt tragen. Wenn zwischen diesen beiden Widersprüche auftreten, dürfen sie auch mal im Verborgenen bleiben, manchmal ist das sogar angebracht. Wenn wir die Chefin eigentlich unangenehm finden, muss sie das nicht zu spüren bekommen. 

Die äußeren Widersprüche, also die Gegensätze, die andere deutlich erkennen, sind dabei etwas gravierender. Die Reaktion von anderen verunsichert uns nämlich immens. Das Umfeld nimmt widersprüchliche Optik oder Verhalten als „unentschlossen“ wahr, doch auch hier können wir uns wieder die Frage stellen: Was, wenn es einfach die eigene bunte Palette an Facetten ist, die wir zweifellos zelebrieren und nicht unterdrücken sollten? 

Manchmal handeln wir ultimativ und daran ist ebenso wenig etwas verkehrt, wie an dem widersprüchlichen Verhalten. Mit letzterem meine ich natürlich nicht, dass wir beispielsweise Monogamie versprechen und Polyamorie ausleben. Das ist unehrlich, nicht widersprüchlich. Es geht vielmehr um eigene Charaktereigenschaften, Erlebnisse und auch Äußerlichkeiten, deren Diversität uns ausmacht.

Vermeintliche „Widersprüche“

Vermeintliche Widersprüche, die andere wahrnehmen, können auch mal absolut realitätsfern sein. Hier ein Beispiel: Ich möchte nicht hören, dass Rauchen nicht zu mir passt, wenn ich auf einer Party (ja, alle Jubeljahre betrete ich auch eine Party) die Lust nach der typischen Gelegenheitszigarette verspüre. Noch weniger erträglich finde ich die Aussage, die mir jetzt schon öfter begegnet ist: „Für eine Frau bist du echt witzig!“ Es gibt also durchaus Menschen, die Humor und Frauen als Widerspruch sehen. Ganz klar: Das sind keine Widersprüche. 

Widerspruch bedeutet Mut 

Es fordert schon jede Menge Mut, sich vermeintlich gegen die eigenen bereits ausgesprochenen Prinzipien zu stellen. Zu sagen, dass wir gerne Single sind und uns dann abends nach einem Partner oder einer Partnerin zu sehnen. Zu sagen, dass wir Dating-Apps abstoßend finden und uns dann mit dem Smartphone zum Swipen verkriechen. Wir selbst kenne die Wahrheit, jedoch verspüren wir immer wieder den Drang, es den anderen zu beweisen. Ist das wirklich nötig? Müssen wir all unsere Kraft dafür aufbringen, andere von unserer Wahrheit zu überzeugen?

Lasst uns all unsere Facetten zeigen

Vielmehr lohnt es sich, das Leben mit all unseren Widersprüchen zu feiern. Rockig-eisiger Look und romantische, kitschige Musik im Ohr? Perfekt. Feministische Aktivistin, mit einer Vorliebe für veraltete Datingsitten? Toll! Heute laut, morgen leise. Die eigene Widersprüchlichkeit nicht ausleben zu können, bedeutet ständig Kompromisse zu machen. Und zu viele Kompromisse machen nie glücklich.

Widersprüche zwischen Job und Privatleben 

Besonders die Widersprüche im Job können riesig sein. Die Person, die vollste Power ausstrahlt, riesige Teams beisammen hält und auf den Tisch haut, wenn es sein muss, kann in ihren eigenen vier Wänden gerne Verantwortung abgeben, liebevoll und äußerst sensibel sein – ist das ein Widerspruch? Nein, absolut nicht, das sind Eigenschaften, die einander befruchten. Wer kann schon immer nur eines sein? 

Wenn ich also das nächste Mal jemand nach meinem Musikgeschmack gefragt werde, dann antworte ich. Ich lasse nichts aus, damit es für mein Gegenüber „plausibel“ klingt, ich kläre auch nicht über meine feministische Seite auf. Ich erkläre auch nicht, dass ich finde, dass wir dann auch keinen englischen Hip-Hop mehr hören dürften und all die Rechtfertigungen, die ich mir zusammengelegt habe, damit mich niemand in eine Schublade steckt. Ich schäme mich nicht mehr, sondern stehe zu meinen ganz eigenen Widersprüchen. Letztendlich geht es hier einfach nur um meinen Musikgeschmack, oder?

Wie wäre es also, wenn wir uns nicht ständig selbst bewerten und hinterfragen, sondern endlich den Mut aufbringen, all unsere Widersprüche auszuleben?

Wenn ihr also etwas total Unberechenbares tun könnten, womit niemand – wirklich niemand – rechnet, was wäre es?

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