Crying on Main: Wann ist Weinen zur Inszenierung geworden?

24. Oktober 2022 von in
Collagenbilder via: pixaby / pixaby / pixaby

Früher war ich nah am Wasser gebaut und Dinge haben mich leicht aus der Fassung gebracht. Immer in den falschen Momenten kamen mir die Tränen. Zu dieser Zeit kam als Rückmeldung der Anderen aber so gut wie nie ein „gut so, Gefühle zulassen, so wichtig“. Sondern vielmehr ein „Hör auf zu heulen. Das bringt dich jetzt auch nicht weiter.“ Oder ein „reiß dich zusammen“. Ich weiß nicht, ob ich heute sagen würde, dass ich mittlerweile weniger nah am Wasser gebaut bin. Kann man sowas überhaupt ändern?

Ich denke, verändern kann man nur das Zusammenreißen. Man kann lernen, die Zähne zusammenzubeißen und zu versuchen, so lange ins Nichts zu starren und von 10 herunterzuzählen, bis die Tränen nicht mehr rauswollen. Was ich mit Weinen verbinde, ist also etwas, das ohne Kontrolle immer in den falschen Momenten passiert. Mir meistens unangenehm war und etwas, dass ich ungern vor anderen tue. Und natürlich auch der Zwang, sich vor allem als Frau eine Zähne-Zusammenbeiß-Mentalität anzueignen, weil man in der Öffentlichkeit prinzipiell nicht weinen sollte. Ein Zeichen der Schwäche, man wirkt hilflos und überhaupt, du willst doch nur Aufmerksamkeit.

 

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Crying on main verspricht die Erlösung

Umso überraschender also, dass wir mittlerweile so viele Tränen wie nie sehen. Im Internet. Live und in Farbe. Als Video-Snippets und in Echtzeit. Denn dort ist „Crying on main“, also das öffentlich in die Kamera weinen, ein totales Ding geworden. Etwas, das man ganz selbstverständlich macht. Die Captions sagen: „Schaut mal, wie authentisch ich bin. Wie vulnerabel. Und ja, auch dieses furchtbar kuratierte Leben „for the gram“ hat seine Schattenseiten“.

Wenn ich an Tränen on Display denke, dann kommen mir zuallererst Castingshows wie Germany’s Next Topmodel in den Sinn. Dort wird viel geweint. Hinter vorgehaltener Hand, in die Schultern der Mitverbündeten oder direkt in die Kamera. Schön ist das nicht immer. Mehr so ein ugly cry, wie der von Kati in „Freche Mädchen 2“. Sie konnte weinen, das sag ich euch. Rotz und Wasser. Es hat quasi gar nicht mehr aufgehört und hatte so gar nichts mit Ästhetik gemein. Denn es war echt, unkontrolliert und voll roher, ungefilterter Emotion.

Was wir gerade auf Social Media erleben, ist ein Vibe-Shift vom unangenehmen Bild der Heulsuse zum romantisierten und ästhetisch inszenierten Weinen-wie-ein-Filmstar

Schaut man sich hingegen die Tränen auf Social Media an, dann sind das schöne Tränen auf gut ausgeleuchteten Selfies. Mit Gesichtern, die an gerade den richtigen Stellen rot und verquollen sind. So ein bisschen, aber nicht so viel, dass man sich nicht neidvoll wünschen würde, einmal im Leben auch so ästhetisch beim Tränen rauslassen auszusehen. Und im nächsten Gedanken ist man dabei, sich zu vergleichen. Hinzu kommt, dass auch die Beauty-Industrie verschmiertes Make-up als Tool einsetzt, wie bei der Gucci Herbst/Winter-Show für 2020. 2022 bei Euphoria: schimmernde Tränen, romantisiertes Gefühlschaos. 2021, als Bella Hadid eine ganze Slideshow auf Instagram voll verweinter Selfies postete. Mit roten Augen, verquollenem Gesicht und sich auch textlich von einer emotionalen Seite zeigte. Etwas, das man sonst eher weniger auf Social Media gesehen hat. Da sich allgemein ein Konsens darüber geformt hatte, welche Gefühle einen Schauplatz im Internet haben sollten.

 

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Weinen on display: Authentisch oder Inszenierung?

Doch Emotionen funktionieren, sind die Währung auf Social Media. Es führt also eins zum anderen, und es war eigentlich klar, dass ein weiteres Tabu ins Spotlight gezerrt wird. Weinen wird optimiert und sich verletzlich zeigen zu einer Kunstform, die man in drei einfachen Schritten lernen kann. Absurd. Vor allem, wenn man bedenkt, dass laut einer Studie der Universität Ulm und Sussex Tränen in den meisten Fällen eine emotionale Ursache haben, die in eine der folgenden Kategorien fällt: Einsamkeit, Machtlosigkeit, Überforderung, Harmonie und Medienkonsum. Doch nein, Weinen im Internet entsteht nicht unbedingt in erster Linie aus hohem Medienkonsum, sondern ist wohl eher die Summe verschiedener Dinge, die man nicht artikulieren kann und vielleicht auch der Wunsch nach Likes. „Crying on main“ wird zum Trend und ist das Mittel zur Heilung oder für mehr Nahbarkeit für Follower:innen. Denn durch das Zurschaustellen der eigenen Verletzlichkeit zieht man andere an, die sich identifizieren und nachfühlen können. Doch so richtig zugänglich ist Weinen on display nicht.

Tränen sind ein Power-Tool, auf das immer eine Reaktion erfolgt. Da sie wissenschaftlich bewiesen IRL bestimmte Botenstoffe in anderen freisetzen.

Kaum verwunderlich also, dass „Fishing for Sympathy“ wohl die größte Achillesferse des aufrichtigen Aktes ist. Denn woher will man wissen, ob das Weinen echt ist oder nicht gezielt dafür genutzt wird, jemanden emotional in die Bredouille zu bekommen? Das kann in Beziehungen zum Beispiel zu toxischen Verhaltensmustern führen, in denen sich jemand verantwortlich fühlt und dadurch zum Bleiben ‚gezwungen‘ wird. Es kann aber auch lebensbedrohlich sein, betrachtet man das Phänomen von „White Tears“. Das sorgt ähnlich machtvoll dafür, dass Vorurteile potenziert werden. Ein Beispiel dafür wäre der Fall Amy Cooper, die unter Androhung von Tränen und einem 911-Call, einen schwarzen Spaziergänger, der sie bat ihren Hund anzuleinen, in eine gefährliche, sowie diffamierende Position gebracht hat. Extrem problematisch, vor allem wenn man sich die TikTok-Challenge „Turn it off“ ansieht. Dort werden Tränen inszeniert und mit einem Mood Switch 2021 bewiesen, wie unzuverlässige Erzähler:innen Tränen sein können.

The way white women weaponise their tears is the scariest, most dangerous thing ever.

I don’t think a lot of white women understand* that a lot of Black people are most scared of them than anyone else.

** then again maybe there is an understanding, and that is also weaponised. https://t.co/31wgwr5RpN

— Faridah Frankenstein 👻🎃 (@faridahlikestea) June 16, 2021

Heulst du schon online oder weinst du noch privat?

Was macht das also mit einem selbst? Stellen wir die Mental-Health-Bewegung beiseite, in der Tränen als heilendes Mittel genutzt werden und klammern alle weinenden Personen im Internet, die das als Grundlage nehmen, aus, dann bleibt immer noch eine große Menge an Tränen, die sich irgendwie falsch anfühlen. Die mit dem Bedürfnis spielen, dass alle auf einmal diese undefinierbare Authentizität haben und sehen wollen. Ähnlich wie mit Funktionen wie Close Friends Storys, Finstas und seit neustem der Online-Plattform BeReal. Aber ist das wirklich echt und authentisch, wenn man sich, sobald man anfängt zu weinen, das Handy schnappt und den Selbstauslöser drückt? Sollte es nicht Momente geben, die ganz uns gehören, die eben nicht geteilt werden müssen? Denn nachdem Nacktheit und auch Intimität immer verbreitetere Werkzeuge sind, ist das letzte, was einem noch zum Ausschlachten auf Social Media übrig bleibt, die Träne.

Tränen wollen nicht erklärt werden, sondern sind Reaktion des Körpers auf Dinge, die uns unterbewusst oder bewusst belasten oder aufwühlen.

Fragt man Hiroki Terai, den Gründer des Rituals „rui-katsu“ (tear-Seeking“), einer 2013 gegründeten Eventreihe, in der Menschen zum Weinen zusammenkommen, dann gehört dazu eben auch immer ein Aufwand. Weinen als Eskapismus kommt nicht von selbst. Zumindest dann nicht, wenn man sich gezielt in diese Emotion begeben möchte. Denn was sonst das Leben, die Umstände oder Erlebnisse übernehmen, die uns in eine Art undefinierbaren State of mind versetzen, wird gezielt mit Musik und Videos ausgelöst. Eben Dingen, die genau auf diese Regungen einzahlen. Und uns im Umkehrschluss dabei helfen, die eigenen Tiefen zu ergründen. Platt gesagt ist der Konsum solcher Medienprodukte wie Pornos, nur für unsere Tränkanäle. Ganz schön makaber.

 

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Weinen sollte keine Kunstform sein

Um also zu meinem eigenen Verhältnis zum öffentlichen Weinen zurückzukommen: Es ist immer noch zwiegespalten. Zwar habe ich gelernt, das plötzliche in-Tränen-Ausbrechen zu kontrollieren, aber manchmal tut es eben auch gut. Es ist wichtig, und vor allem, wenn Hormone im Spiel sind, oftmals unvermeidbar. Was ich mir allerdings wünsche, ist, das Stigma des Weinens zu brechen. Es einerseits zu normalisieren, dass es okay ist, zu fühlen – egal aus welchen Motiven. Einsamkeit, Machtlosigkeit, Überforderung, Harmonie und ja, vielleicht auch zu hoher Medienkonsum. Doch andererseits finde ich es ebenso bedenklich, wenn Trends wie die „Turn it off“-Challenge passieren, die zeigen, wie leicht die Social-Media-Tränen abstellbar und wie wenig echt sie sein können. Auch verkauft „Crying on main“ ein falsches Bild davon, wie The Art of Crying auszusehen hat – denn den Druck, beim Weinen auch noch gut aussehen zu müssen, hat nun wirklich keiner gebraucht. Das Weinen hat im echten Leben nämlich ganz schön viele Gesichter. Genauso wie es unendlich viele Gründe dafür gibt, den Tränen freien Lauf zu lassen. Ganz abseits der Kamera, Ringlichtern oder Insta-Lives.

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3 Antworten zu “Crying on Main: Wann ist Weinen zur Inszenierung geworden?”

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