That Girl oder Sad Girl: Unser ewiges Streben nach Perfektionismus

11. Februar 2022 von in

Um sieben Uhr dreißig klingelt mein Wecker, um acht trinke ich meinen ersten Kaffee, um halb neun mache ich eine kurze Yoga-Einheit. Meine Morgenroutine ist übersichtlich, wenn ich sie mit manch anderen vergleiche. Mit jenen, die sich That Girl nennen. Das TikTok-Phänomen meint die Person, die sich streng auf sich selbst konzentriert und Selbstliebe propagiert. Ich habe erst ziemlich spät von dem That Girl-Trend erfahren. Doch heute weiß ich, dass sie bei diesem Trend viel Wasser trinkt, in einem stets aufgeräumten Zuhause lebt, glänzendes Haar hat und kurzum das ist, was ich in meiner Pubertät immer sein wollte, aber nie war. Überall sind die Anleitungen – insbesondere an junge Mädchen gerichtet – die erklären, wie man die perfekte Version von sich selbst werden kann. In Form von teuren Säften, überdurchschnittlich viel Sport, unbezahlbaren Beauty-Produkten und teuren Wellness-Urlauben.

That Girl in Zeiten der Pandemie

Ich glaube, es ist kein Zufall, dass der Trend That Girl das erste Mal während einer Pandemie aufkam. Während einer weltweiten Krise, in der sich das Kollektiv im Kontrollverlust suhlt und das in der meisten Zeit zu Hause. Da kommt ganz schön viel zusammen. Als sich im ersten Lockdown die einen ein Hobby suchten (zum Beispiel Häkeln), kümmerten sich die anderen darum, besser zu werden (zum Beispiel durch Sport). Wer sich den streng vorgegebenen Maßnamen hingibt, die That Girl einem vorschreibt, erhält die Illusion von Kontrolle. Zwar keine weltweite, doch eine ganz kleine Kontrolle über sich selbst, in den eigenen vier Wänden. Der Wecker klingelt früh, die Abfolgen sind klar und werden brav erfüllt. Doch wofür machen wir das alles überhaupt? Was ist der Zweck der Selbstoptimierung, wenn es kein Ziel gibt, außer das, „besser“ zu werden? Die Frage bei dem ganzen Praktizieren von vermeintlicher Selbstliebe ist, wann das Ziel erreicht ist, und wann es an der Zeit ist, sich anderen Themen als nur sich selbst zu widmen. 

Individualismus und Kapitalismus sind schuld und ja, wie immer, auch Social Media

Wer die Zeit, das Geld und das Privileg hat, nach den Regeln der kontrollierten Selbstliebe zu leben, ist natürlich dadurch nicht zwangsläufig glücklicher. Im Gegenteil. Denn ich befürchte, der Markt wird dieses Problem nicht regeln können. Im Gegenteil: Er ist ja das Problem. Wir leben in einer neoliberalen Gesellschaft, die Individualismus fördert oder sogar voraussetzt. Individualismus bedeutet Konkurrenz. Alleine gegen den Rest der Welt, um es mal pathetisch auszudrücken. 

Bedeutet: Wir leben in ständigem Konkurrenzmodus.

Schon alleine auf Social Media*. Ständig sehen wir dort auf den kuratierten Profilen anderer, dass es die einen noch besser haben als wir selbst. Die anderen sind früher aufgestanden, die nächsten haben mehr Sport gemacht, mehr Jobs angenommen, und gleichzeitig noch mehr soziale Interaktionen gehabt als wir selbst. Ihr kennt den Struggle. Es ist nicht das erste Mal, dass ich irgendeine (und zwar wirklich irgendeine, es ist am Ende nämlich komplett egal ob wir hier von Twitter, Instagram, Twitch oder TikTok sprechen) Social-Media-App irgendwann schließen oder deaktivieren musste, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, dass sich alle gegenseitig (unterbewusst) nur überbieten wollen.
*Ja, ich blame schon wieder Social Media.

 

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Ich schreibe den wenigsten eine böse Absicht zu – ich bin ja auch selbst Teil des Ganzen. Ich glaube, die wenigsten haben ersthaft den Gedanken, mit irgendwas angeben zu wollen, sondern sie wollen mit ihrem Auftritt auf Social Media einfach nur ein Gefühl von Zugehörigkeit und Anerkennung oder Lob bekommen. Da haben wir’s wieder: Wir neigen dazu, sofort wieder das Individuum zu verurteilen. Doch auch wenn wir es nicht wollen, wer in dieser neoliberalen, kapitalistischen Individualismus-Ära lebt, in der auch ich lebe, wird nicht davon gefeit sein, dem konstanten Wettbewerbsgefühl hinterher zu jagen. Schuld daran sind nicht die Individuen, sondern das Konzept Individualität. Alleine auf der Suche nach einem Funken von Befriedigung und Ruhe zu sein, dem Gefühl, endlich irgendwo angekommen zu sein, durchzuatmen und sich zurücklehnen zu dürfen. 

Das neoliberale Wirtschaftssystem fördert den Wettbewerb untereinander.

Noch schlimmer aber geht es davon aus, dass jeder Mensch für seine Sorgen, Ziele, Probleme und Voraussetzungen selbst verantwortlich ist. Der Gedanke hinkt ja schon alleine in seiner Definition selbst: Kein Mensch kommt mit den gleichen Voraussetzungen auf die Welt. Es ist also unmöglich, von allen Individuen die gleichen Ziele zu erwarten. Aber gut, ändern tut die Tatsache nichts daran, dass die Individuen immer mehr darauf aus sind, ihren eigenen Marktwert zu steigern, um sich gegen ihre Mitstreitenden durchzusetzen. In Form von Leistung, die sich auf die unterschiedlichsten Arten zeigt. Nicht nur die Arbeit selbst, sondern auch den Lifestyle. Den, welchen „That Girl“ propagiert. Und mit ihr natürlich viele weitere Anhänger:innen des Wellness-Syndroms. 

That Girl oder Sad Girl?

Nein (That) Girl, nicht jede ist ihres eigenes Glückes Schmied. Das haben wir jetzt schon einige Male besprechen müssen, und ich werde nicht aufhören, es zu sagen, bis du es checkst. Du alleine bist nicht verantwortlich für deine Leistung. Schon deine Herkunft spielt mit rein, deine Hautfarbe, dein Gender, dein Körperbau, deine nicht-Behinderung, dein gesundheitlicher Zustand. Theoretisch kannst du dich glücklich schätzen, nah an That Girl dran zu sein, doch streng genommen bist du eigentlich Sad Girl, da wir uns wahrscheinlich darin einig sind, dass dich deine Morgenroutine in zwanzig Schritten nicht glücklich machen wird. Mich zumindest machen sie nicht glücklich. Es ist ein schmaler Grat, jeden Tag auf’s Neue, auszutüfteln, was mir wirklich gut tut, und wann ich anfange, einem Ideal hinterher zu jagen, das ich niemals erreichen werde. Irgendwie stecken wir alle ganz schön tief drinnen in dem Bedürfnis, uns selbst und unser Leben zu „verbessern“. Denn Gesundheit – sei sie nun psychisch oder physisch – hat nur herzlich wenig mit persönlicher Moral und Disziplin zu tun. Zum größten Teil ist Gesundheit biologisch oder genetisch und absolut nicht moralisch.

Die einzige Frage, die ich mir also stellen kann und regelmäßig stellen muss, ist die: Warum will ich die Dinge tun, die mir vermeintlich gut tun? Will ich Sport machen, weil ich wirklich Lust darauf habe, oder weil ich denke, es wäre mal wieder an der Zeit? Weil ich denke, ich müsste? Will ich mich gesünder ernähren, da ich aktiv unter meiner Ernährung leide, oder weil ich denke, ich müsste, weil es (anscheinend) alle machen? Wieso will ich früh ins Bett? Weil ich müde bin, oder weil ich denke, ich brauche viel Schlaf, um am nächsten Tag zu funktionieren? Eine Routine kann dich stabilisieren, jedoch niemals retten oder grundlegend verändern. Gesundheit hat zum kleinsten Teil mit Individualismus und „persönlichen Entscheidungen“ zu tun. Natürlich können die oben genannten Dinge etwas besser machen, aber sie können auch vieles schlechter machen. Wenn die ursprünglich gut gemeinten Ratschläge plötzlich zum Zwang werden, und am Ende nur noch mehr Stress verursachen, als dass sie entlastend sind. Der beste Weg ist, sich seiner Taten bewusst zu sein. Und wenn der innere Perfektionismus überhand nimmt, einen Gang runter zu schalten. Und bestenfalls auch das Handy damit abzuschalten, sich mit Menschen zu umgeben, die man wirklich mag und endlich mal zu chillen.

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2 Antworten zu “That Girl oder Sad Girl: Unser ewiges Streben nach Perfektionismus”

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