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Talkshow für die TikTok-Generation: Lasst uns über „deep und deutlich“ sprechen
Der NDR hat eine neue Talkshow: „deep und deutlich“. Eigentlich lassen mich solche Neuigkeiten recht kalt. Ich habe die meisten Talkshow-Formate für mich aufgegeben. Das kann daran liegen, dass ich keinen Fernseher besitze und mich somit jedes Mal durch die Online-Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender klicken müsste. Wahrscheinlich ist aber, dass sie mir oft zu alt, zu weiß, zu männlich sind. Warum ich also trotzdem eingeschaltet habe?
Die Antwort lautet: die Moderatorin Aminata Belli. Das erste Mal habe ich sie bei einer Shopping-Queen-Folge gesehen, dann spannende Reportagen von ihr auf YouTube geschaut. Seit ich ihre Aufklärungsarbeit auf Social Media verfolge und ihren Aktivismus zur Black-Lives-Matter-Bewegung sehe, kann ich mich ein echtes Fangirl nennen. Sie ist nicht alleine, Mohamed El Moussaoui, besser bekannt als Rapper MoTrip, ist ihr Co-Moderator. Außerdem führen auch Svenja Kellershohn und Tarik Tesfu durch die Sendung. Die Teams wechseln sich ab. Ich bin überzeugt, und so sitze ich mit einem Radler in der Hand und Gummibärchen auf dem Schoß abends vor meinem Laptop.
Alte Tricks, Neue Menschen
Cluesos Kopf liegt im Nacken. Seine Hand zittert, sodass die Weintrauben, die er über seinem geöffneten Mund hält, wackeln – eine Mannequin-Challenge. Kurz überlege ich, ob ich mich dem nun wirklich 109 Minuten widmen möchte. Alter Mann und alte Challenge? Die Kamera schwenkt zu den anderen Gästen. Neben altbekannten Gesichtern wie das der Moderatorin und Autorin Sophie Passmann und der Journalistin Nadia Kailouli reihen sich mir neue Persönlichkeiten ein wie Deutschlands größter TikToker Younes Zarou, Popstar Katja Krasavice und die YouTuber „The Real Life Guys“.
Denke ich an Talk Shows, dann an Anne Will, Frank Plasberg oder Markus Lanz. Also an Sendungen, bei denen Vielfalt nicht zur Norm gehören. Dabei ist der Bildungs- und Informationsauftrag des Rundfunks ein inhaltlich vielfältiges Programm sicherzustellen, das sich an die Allgemeinheit richtet. Mit einer Mischung ausweißen Menschen und PoCs zeigt „deep und deutlich“ eine Diversität, die ich in diesem Format noch nie gesehen habe.
Manchmal muss Zuschauen weh tun
Den Anfang machen die Zwillinge Phillipp und Johannes, bekannt als „The Real Life Guys“. Sie erzählen in knapp 20 Minuten von ihrer Kindheit, dem Flugzeugabsturz ihrer Schwester, Religion und Phillipps Krebserkrankung, die nun erneut ausgebrochen ist. Fast nebenbei sagt er, dass er nur noch ein paar Monate zu leben habe und grinst dabei. Allen Gästen sieht man an, wie betroffen sie sind. Ich sitze geschockt vor dem Bildschirm und merke wie unangenehm es mir ist, zuzuschauen. Sein Grinsen hat mich irritiert.
Als ich die Show gerade doof finden will, merke ich wie falsch ich mich verhalte. Da sitzt jemand auf einem Stuhl und erzählt der Welt aus seinen dunkelsten Erlebnissen und ich verurteile ihn für ein Grinsen. Sollte ich es nicht besser wissen? Es könnte auch ein Zeichen von Verunsicherung oder ein Abwehrmechanismus sein, um nicht weinen zu müssen. Auf einmal bin emotional ein Teil des Ganzen. Während des Verlaufs der Gespräche muss ich mich immer wieder selbst hinterfragen, ob ich das im realen Leben auch mache? Ich fange an die Show zu mögen.
„Du bist Feministin“
Sofort geht es weiter zu Sophie Passmann. Sie spricht über die Body-Positivity-Bewegung auf Instagram, die sie nervt, Social Media im Allgemeinen und nebenbei noch über ihre bipolare Störung. Nach zehn Minuten ist Katja Krasavice dran. Auch Krasavice spricht über intime Ereignisse in ihrem Leben: ihre schwierigen Familienverhältnisse, ihre innere Verschlossenheit und ihre äußere Freizügigkeit, die sie als Empowerment sieht. MoTrip stellt nun die Frage, ob Passmann und Krasavice am Ende nicht beide Feministinnen sind?
Katja Krasavice scheint die Definition von Feminismus nicht genau zu kennen. Sie sei zwar für die Gleichberechtigung aller, jedoch keine Feministin. „Du bist auf jeden Fall eine Feministin“, erklärt ihr Belli. Ihre Klarheit beeindruckt mich. Als Moderatorin ist es gewiss nicht ihre Aufgabe Menschen zuzuschreiben, was sie sind. Aber ich kenne diese Situation selbst zu gut. Im Gespräch mit Freundinnen, die für Gleichberechtigung sind, aber sich nicht Feministinnen nennen wollen, als wäre dies eine Beleidigung. Ich nehme mir vor, das nächste Mal auch so zu reagieren.
Zuviel des Guten
Für meinen Geschmack könnte die Sendung mit diesem starken Satz nun vorbei sein. Nicht, weil ich nichts hören möchte über Cluseos Leben nach dem Mauerfall oder Kailoulis „Sea-Watch 3“-Reportage. Doch spätestens bei der Vorstellung von Younes Zarou frage ich mich, warum er noch eingeladen werden musste. Ich bin überfordert. Denn „deep und deutlich“ wirft in ihren Themenkoffer das ganze aktuell gesellschaftspolitische Geschehen. Das macht die Handlung zwar „deep“, gibt aber nicht genug Raum, um auch tiefgründig auf alles einzugehen. Die Hintergründe werden ebenso nicht deutlich. Es ist ein verbales Tik-Tok, statt alle 15 Sekunden ein neues Video zu sehen, werden im Minutentakt neue Bereiche angeschnitten und alle 15 Minuten wechselt auch die Protagonisten.
„Deep und deutlich“ ist schnell, verdammt schnell. Wer das nun als totale Kritik versteht, liegt falsch. Die Generationen unserer Eltern und Großeltern können bei diesen Gesprächen höchstwahrscheinlich nicht mehr mithalten. Das ist ok. Hier wurde der Versuch gestartet, junge Menschen wieder näher an ein Talkshow-Format zu bringen. Ich habe nicht ausgeschaltet, es scheint zu funktionieren. Wenn noch nicht perfekt, ist die Sendung revolutionär. Ich werde wohl wieder einschalten.
Foto: © NDR