Short Cut: Sommerhitze
Unter Short Cut veröffentlichen wir von amazed ab sofort Kurzgeschichten und literarische Momentaufnahmen.
Die Hitze klebt an uns. Ich rücke meine Sonnenbrille wieder an den richtigen Platz, die Sonne scheint mir ins Gesicht, obwohl wir uns extra einen Schattenplatz gesucht haben. Hier unter dem Baum, an dem wir schon als Kinder lagen. Die Picknickdecke piekst. Das tut sie schon immer. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Sommer wir auf ihr verbracht haben. Irgendwie lag sie immer im Auto, für einen spontanen Freibadbesuch parat. Meine Haare kleben mir im Nacken, der Schweiß vermischt sich mit meiner Sonnencreme. Dabei beobachte ich das Treiben vor mir. Ich hatte den Lärmpegel in einem Schwimmbad unterschätzt. Vergessen. In der Großstadt bin ich selten schwimmen. Obwohl, oder gerade weil wir am Dorf sind, ist es hier ziemlich laut. 15 Uhr, die Kinder haben das Schwimmbad gestürmt. Irgendwo kreischt ein Baby, die Durchsagen der Bademeister „Bitte nicht vom Rand springen“ wiederholen sich. Gekicher, Geschimpfe. Der 14-jährige Bub in seiner blauen Badehose stürmt das Sprungbrett. Und platsch. Die Bombe saß. Die Mädels springen entsetzt zurück, auch mich trifft ein Tropfen. Ich zucke zusammen. „Oh sorry“, höre ich es neben mir. Felix hat eine Sprudelflasche geöffnet. Doch nicht das Werk des Bombers. Felix nimmt fünf Schlücke, schon ist die Flasche halbleer. War ja klar. Trotzdem muss ich schmunzeln, manche Dinge ändern sich eben nie, egal wie alt wir Jahr für Jahr werden.
Ich blende die Geräusche aus, lege mich zurück und greife zu meinem Magazin. „Und wie heißt sie?“, frage ich nach links. „Meinst du mich?“ Felix blickt von seinem Handy auf und sieht mich unschuldig an. „Nee, das Baby neben mir. Natürlich dich. Oder mit wem schreibst du seit dem wir hier sind Tausende von Nachrichten.“ Sein schon leicht von der Hitze gerötetes Gesicht wird eine Nuance dunkler. Ertappt legt er sein Handy weg. „Ich schreibe mit niemanden. Nur so Freunde. Kumpels halt. Na du weißt schon.“ „Jaja“, grinse ich und greife meine Zeitung.
„Leonie.“ Verwundert drehe ich mich zu Felix. „Sie heißt Leonie.“ Jetzt wird es interessant. „Die Leonie aus deiner Klasse?“ „Genau die.“ Noch bevor ich eine Frage stellen kann, sprudelt es aus ihm heraus. „Die ist toll. Anders als ihre dummen Freundinnen. Mit ihr kann man normal reden, ohne blödes Gekicher. Außerdem sieht sie schön aus.“ „Sie sieht verdammt gut aus“, sage ich. „Ja schon.“ Wieder eine Nuance. „Aber sag bloß Mama und Papa nichts.“ „Keine Sorge. Und was schreibt ihr so?“ „Dies und das. Vielleicht treffen wir uns bald mal auf ein Eis.“ Ich lächele. Mein kleiner Bruder also.
Es sind Semesterferien. Die letzten Wochen sind angebrochen, sie werde ich hier im Dorf, in der bayerischen Landidylle verbringen, bevor es wieder zurück nach Köln geht. Weit weg – von den Bergen, der Einöde, meinem Bruder. Ich weiß so wenig über ihn, seitdem ich ausgezogen bin. Die Vorstellung mit ihm die Semesterferien zu verbringen, am Ende sein Babysitter zu sein, widerstrebte mir. Aber bei der Hitze war ein Ausflug ins Schwimmbad vielleicht das einzig richtige. Vielleicht kommen wir uns näher. Vermisst er mich manchmal? Ich weiß es nicht. Ich weiß einfach gar nichts über ihn. Außer jetzt die Sache mit Leonie.
Wir schweigen wieder. Die Zeitung schwärzt auf meine Finger ab. Eigentlich ist es viel zu heiß. Zu heiß, um die Weltnachrichten zu lesen. Da ist das klitzekleine Liebesleben meines kleines Bruder doch viel interessanter. „Felix, sag mal…“ „Klara, komm, wir springen ins Wasser.“ Ich verdrehe die Augen. „Mir ist zu heiß.“ „Papperlapapp… bitte. Komm schon.“ „Geh doch allein.“ „Nein, du musst mit.“ „Felix, du bist 11, ich bin nicht dein Babysitter.“ „Mann Klara, du bist blöd. Komm mit. Bitte.“
Ich rappel mich auf. MEINE Vorstellung von einem entspannten Tag im Schwimmbad entspricht offensichtlich nicht der meines Bruders. Seufzer. „Na gut, ein Sprung.“ „Juhuu“ schreit es, und Felix stürmt schon in Richtung Sprungturm. Ich eile hinterher, über die heißen Betonplatten hin zum rutschigen Sprungbrett. Felix steht schon an der Kante. „Schau, Klara.“ Ich blicke auf, Felix grinst, – er sieht so jung aus, viel mehr Kind noch als Mann – wippt mehrfach und springt im hohen Bogen in das Becken. Unten angekommen, taucht er im Sprudel der Wasserblasen wieder auf. „Jetzt du“, schreit es im Wirrwarr der Geräusche. Ich tippel nach vorne. Wie lange stand ich nicht mehr auf einem solchen Brett? Bevor mich die Gedanken des „Was wäre wenn“ erreichen, wippe ich wie mein kleiner Bruder. „Klaaaaraaa, mach schon.“ Das kühle Wasser trifft meine Füße zuerst. Nach dem ersten Schreck fühlt sich die Kühle angenehm an. Ich schwimme zum Beckenrand, streife mir die nassen Haare aus dem Gesicht und strecke mein Gesicht gen Sonne. „Nochmal“, tönt es neben mir. Ruhe gibt es offensichtlich nicht. Also springen Felix und ich nochmal. Und nochmal.
Eineinhalb Stunden später falle ich völlig erschöpft auf die alte Picknickdecke. „Oh Gott, ich bin erledigt, Felix“, lache ich. „Du bist halt schon alt“, lacht er – und ich kann ihm nicht mal böse sein. 22 muss für ihn unfassbar alt sein. „Und jetzt Pommes.“ Pommes mit Ketchup aus der Papiertüte. Das schmeckt nach Sommer. Minuten später muss ich mich beeilen, sonst isst Felix mir noch alles weg. So sitzen wir beide da, mampfen Pommes mit Ketchup, die sich neigende Septembersonne im Rücken.
Um 19 Uhr machen wir uns auf den Heimweg. Durch Drehkreuz zu Fuß in Richtung nach Hause. Wie früher, denke ich. „Das war cool heute.“ „Ja, das fand ich auch“, ich blicke zu Felix und strahle. „Vielleicht geh ich einfach morgen mit Leonie ins Schwimmbad.“ „Das ist eine gute Idee.“ Während Felix schon wieder neben mir trabend über seinem Handy hängt, sauge ich noch die Abendluft des Sommers ein. „Ist eigentlich ganz schön hier“, tippe ich ins Handy. Ein Lebenszeichen aus dem Dorf nach Köln. „Heute war ein toller Tag“, schicke ich hinterher.