Short Cut: Die unendliche Geschichte Teil 1 von Vea Kaiser

24. Juli 2019 von in

Ist ein Ende vielleicht viel spannender als ein Anfang? Was will ich eigentlich von der großen Idee Zukunft? Diese Fragen muss sich Dora stellen, die Protagonistin der neuen VOGUE-Kurzgeschichten-Serie „Die unendliche Geschichte“. In ihr wird von Monat zu Monat ein anderen Autor oder eine andere Autorin gebeten, Doras Story weiterzuschreiben. Die erste und damit so wichtige Ausgabe von „Die unendliche Geschichte“ stammt von Bestsellerautorin Vea Kaiser. Ihr Titel: „Unendliche Möglichkeiten“.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Vogue.de

Dora war ein rationaler, mit beiden Beinen auf der Erde stehender Mensch. Art-Direktorin einer renommierten Werbeagentur, vierunddreißig Jahre alt, glücklich liiert. Das Esoterischste in ihrem Leben waren Kundalini-Yoga-Stunden im Fitnessstudio und ihr Rosenquarz-Roller. Früher, als sie in einem ranzigen Apartment in SoHo gelebt hatte, hatte sie mit ihrem Kollegen Clay manchmal einen Psychic-Laden im Greenwich Village besucht, um sich aus Jux und Tollerei die Zukunft vorhersagen zu lassen.

An eine echte Glaubwürdigkeit dieser Hellseherinnen hatten sie nie geglaubt, lustig war es trotzdem gewesen. Seit Dora heute Morgen beim Zähneputzen Clays Insta-Story gesehen hatte, loderte in ihr die New-York-Sehnsucht so stark wie schon lange nicht mehr. Die ganze Truppe hatte sich in Jimmys Rooftop-Bar versammelt, um einen Tag des Sample-Sale-Hoppings mit Sundownern zu begießen, während sich in den Hochhausfronten die untergehende Sonne spiegelte. Clay hatte sie aus endloser Gemeinheit sogar mit einem Hashtag miteinbezogen: #FindingDora.

Und wahrscheinlich war es eine Kombination aus akuter New-York-Sehnsucht und Langeweile, die Dora dazu verleitete, der Wahrsagerin, die am Stachus nach den Handflächen der Wartenden griff, fünf Euro zu geben. Sie erwartete einen nichtssagenden, aber glücklich machenden Satz, wie damals in New York. Doch hier in München hörte die Wahrsagerin auf zu lächeln, ließ Doras Hand sinken und sagte bedeutungsschwer:

„Wenn die Suppe leer ist, ist alles vorbei.“

Noch ehe Dora sie fragen konnte, was sie damit meinte, eilte die Wahrsagerin in die 27. Erst, als die Tram anfuhr, registrierte Dora, dass auch sie in diese Bahn hätte steigen sollen.

Den ganzen Weg ins Büro ärgerte sich Dora, dass sie fünf Euro für so einen stupiden Satz statt für einen großen Kaffee ausgegeben und deshalb auch noch ihre Tram verpasst hatte. Wenn es eine Speise gab, die Dora seit Jahren nicht mehr konsumierte, war es Suppe. Von der hatte sie sich als Studentin in Berlin abgegessen. Nicht einmal persische Linsensuppe aß sie, obwohl das Rezept dafür das einzige Erbstück war, das die Familie ihres Lebensgefährten Navid bei der Flucht aus dem Iran mitgenommen hatte. Diese Pseudo-Prophezeiung war offensichtlicher Humbug.

Als Dora sich an den Schreibtisch setzte und registrierte, dass über Nacht 54 neue Mails von Kollegen eingetrudelt waren, die alle in Rufnähe saßen, kam sie im Jetzt an. Sie band sich die Haare am Hinterkopf zusammen und tippte los.

Sie war so vertieft in die Beantwortung langer Nachrichten, deren Anliegen man im persönlichen Gespräch binnen dreißig Sekunden hätte klären können, dass sie ihren Chef Ali erst gar nicht bemerkte und dann leise erschrak, als er lässig an ihrem Schreibtisch lehnte. Mit seinem Dreitagebart und dem vom Schlafmangel gezeichneten Gesicht sah er mehr wie ein Werbetestimonial denn wie ein Werbungsmanager aus. Dora wollte gerade einen Spaß machen, dass seine Pose nichts nutze, da die neuste Coke-Light-Kampagne ohne sexy Männer auskäme, als er sie jedoch mit ernster Miene ansprach:

„Dora, können wir uns unterhalten?“

Dora folgte ihm verunsichert in sein Büro, das das Einzige war, dessen Wände nicht durch Topfpflanzen ersetzt worden waren. Sie hielt sich an dem Glas Wasser fest, das er ihr einschenkte, und hörte zu, wie Ali darüber sprach, dass die Agentur bald gänzlich auf Online setzen werde. Dass Dora die beste Art-Direktorin sei, die es in der Stadt gab. Aber völlig auf Print fixiert. Die Agentur bräuchte jemand Jüngeren. Internationaleren. Frischeren. Print sei nun mal eben tot.

„Bist du eigentlich noch mit deinem persischen Gynäkologen zusammen?“, fragte Ali schließlich.

Dora nickte und machte sich bereit, ihm die Standpauke des Jahrhunderts zu halten, wenn er ihr nun erklären würde, dass sie ja keine finanziellen Sorgen fürchten müsse, doch stattdessen sagte er:

„Sarah und ich lassen uns scheiden. Falls du dich mal privat treffen willst, ich würde mich freuen.“

Ali zwinkerte ihr zu, wie es ein echtes Coca-Cola-Testimonial nicht besser gekonnt hätte. Dora war so perplex, dass sie wortlos aufstand und ging.

Dora hätte gern zu denjenigen Menschen gehört, denen immer eine schlagfertige Antwort auf der Zunge lag. Sie wäre gern ein Mensch, der vor Entrüstung und Empörung aufspringen und eine Revolution ausrufen konnte, wie ihre Studienkollegin Mara in Berlin. Doch Dora war und blieb ein pflichtbewusster Mensch, dem die guten Antworten erst Stunden später in den Sinn kamen. Und die es auch nicht über sich brachte, angesichts ihrer Kündigung aus der Agentur zu stürmen, ohne vorher alle Emails beantwortet zu haben.

Sie hatte Schwierigkeiten sich zu konzentrieren. In München würde sie keinen Job mehr wie diesen finden, und wenn doch, dann nur mit der Hälfte ihres Gehalts. Würden sie sich jetzt den Urlaub auf den Seychellen leisten können, den sie für November geplant hatten? Ganz zu schweigen von der Miete? Navid verdiente genug, aber Dora war nicht die Frau, die sich von ihrem Mann auf einen Urlaub einladen, geschweige denn von ihm aushalten ließ.

Doras Eltern hatten sie zur Selbstständigkeit erzogen. Die beiden waren seit einem halben Jahr auf einer Weltreise, auf die sie zu gleichen Teilen gespart hatten. Doras Mutter hatte ihr immer vorgelebt, dass man als Frau ein eigenes Konto und einen Beruf haben musste. Als sie vor einem Monat mit Navids Arbeitskollegen und dessen Frauen essen gewesen waren, war Dora war die einzige am Tisch gewesen, die Vollzeit arbeitete. Sie war absichtlich zu spät in die Trattoria gekommen, nur um sagen zu können: Sorry, so viel Stress im Büro.

Nachdem sie zuhause angekommen war, fiel sie Navid in die Arme.

„Die haben mich gekündigt“, flüsterte sie in seinen Hemdkragen. Sie fühlte sich zu leer, um zu weinen. Das hatte sich so nicht abgezeichnet.

„Das tut mir leid“, sagte er und streichelte ihr lange über den Rücken. Gute zehn Minuten verharrten sie aneinandergekuschelt. Er küsste ihr Haar, und dann sagte er: „Weißt du was, das trifft sich gut. Stell dir vor, Dr. Borkemann, der Kassen-Gynäkologe auf Sylt, hat ein Burnout.“

„Ja, und?“

„Ich könnte seine Ordination übernehmen.“

„Auf Sylt?“

Sie war absichtlich zu spät in die Trattoria gekommen, nur um sagen zu können: Sorry, so viel Stress im Büro.

„Es ist schön da.“

„In New York ist es auch schön.“

„Ich darf doch als Perser nicht einmal nach Amerika einreisen!“

„Und deshalb willst du nach Sylt?“

Navid zuckte mit den Schultern.

Plötzlich klingelte es an der Tür.

„Wer ist das?“

„Der Lieferservice“, sagte Navid und ging an die Tür, um die Lieferung entgegenzunehmen. „Ich hab uns was vom Vietnamesen bestellt. Ein Bun für mich und eine Pho für dich.“

Wie versteinert stand Dora da, während Navid dem Lieferboten Trinkgeld gab.

„Lass uns mal essen und dann reden wir weiter“, sagte Navid sanft und berührte sie an der Taille, um sie zum Tisch zu führen.

Doch Dora bewegte sich nicht von der Stelle. Pho, eines ihrer Lieblingsgerichte, war nichts anderes als eine asiatische Nudelsuppe.

Mit „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ und „Makarionissi oder Die Insel der Seligen“ schrieb Vea Kaiser zwei Bestseller-Romane. Sie zählt zu den erfolgreichsten SchrifstellerInnen ihrer Generation. „Rückwärtswalzer oder Die Manen der Familie Prischinger“, ihr drittes Werk, erschien diesen Monat im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Weitere Informationen über Vea Kaiser seht ihr hier.

Fotos: Donari Braxton & Unsplash

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