Short Cut: Die Tragödie der Maryam Webers

15. März 2019 von in

Die Kurzgeschichten unter der Kategorie Short Cut sind frei erfunden.

„Eine Cola, bitte“
„Dit is‘ aus“
„Na gut, dann ein Wasser“
„Is‘ och aus“
„Was haben Sie denn noch?“
„Sehn Se doch hier“, der Mann sah aus wie ein 40-Jahre altes Baby. Sein Gesicht war genau so rot wie seine Schürze und die wenigen Haare, die am Körper zu sehen waren, waren weißblond. Korpulent. Glatzköpfig und irgendwo dazwischen wuchsen ein paar unauffällige und lichte Haarbüschel, die als Augenbrauen fungierten. Er tippte mit seinen angekauten Fingernägeln auf die Getränkekarte.

„Da steht aber auch Cola.“
„Dit is‘ aus“
„Das sagten Sie bereits.“
„Sie och“

Ich sah mich um, und eine große Traube an Menschen drängelte sich als Pulk hinter mir nach vorne. Genervte Blicke. Das Bistro in dem IC erlebte wohl heute seinen Höhepunkt, da der Zug sich seit über einer Stunde kein Stück voranbewegte. Plötzlich erschienen die Schinken-Käse-Baguettes und die Coca Colas so verführerisch wie nie. Zeit überbrücken. Langeweile überleben. Das quengelnde Kind hinter mir setzte mich unter Druck. Ich wusste, wenn ich mich nicht in wenigen Sekunden für etwas entscheiden würde, würde mich der Vater erdrosseln, dessen Drillinge ihm den letzten Nerv raubten.

„Na gut. Dann ein Snickers, bitte.“
„Noch wat zu Trinken dazu“
Ruhig bleiben. Ich schüttelte den Kopf.
„Dit macht dann Einsfuffzich“

Ich schob das halb geschmolzene Snickers in zwei Schüben in meinen Mund und ließ mich erschöpft auf die rote Lederbank sinken. Seufz. Wieso fuhr dieser verdammte Zug nicht weiter. Noch eine Station bis Berlin! So nah und doch so fern. Ich fand, ich hatte es momentan wirklich nicht einfach und meine Überzeugung, die Welt hätte sich gegen mich verschworen, stieg kontinuierlich an.

Betrogen von meinem Mann – mit einem Mann. Nicht einmal böse durfte ich ihm sein. Beglückwünschen musste ich ihn für das Wiederfinden seiner Sexualität, als er mir erzählte, dass er seit einem Jahr mit Mirko schlief. Ausgerechnet Mirko! Derjenige, der uns beim Abendessen mit seinen wilden Sex-Geschichten im Berghain und so unterhielt. Der Typ, der am Wochenende private Sex-Orgien in seiner Wohnung feierte und der unter der Woche beispielsweise Soja-Lachs auf Koriander für uns kochte. Die Klischeeschwuchtel schlechthin, die nichts anbrennen ließ. Nicht einmal meinen Mann.

Meine Finger fingen an zu zittern, und ich hatte das Gefühl, das Snickers in wenigen Sekunden zurück auf meinen Schoß zu kotzen. Denk nicht zu viel darüber nach, Maryam. Schön ruhig bleiben. Akzeptiere die Dinge. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, die Zukunft schon. Lass los. Ich erinnerte mich an die Worte meiner Therapeutin und atmete tief ein.

Wie Wespenstiche bohrten sich die Bilder ihren Weg zurück in meinen Kopf. Wie Paul meine Nippel leckte und eine Errektion bekam, wenn ich ihm einen blies. Wie konnte er Sex mit mir haben, wenn er doch auf Schwänze stand? Bis zum Ende unserer Beziehung hatten wir ihn. Auch in der Zeit, in der er bereits mit Mirko… Es sei wie Fahrradfahren, sagte Paul dann, als ich ihn fragte, wie er noch mit mir schlafen konnte, als er bereits mit Mirko… Wie Fahrradfahren. Ich war seine Frau, und nun war ich ein Fahrrad. Ich wollte weinen, doch mein dehydrierter Körper brachte nicht mehr als ein lautes Schluchzen heraus. Eine ältere Dame, vermutlich aus Bayern, bestellte bei dem rot angelaufenen Glatzkopf hinter’m Tresen.

„Seins so lieb und gebens mir eine Flasche von dem Adelholzener Medium da“
„Dit macht dann Dreifuffzich“. Das war gerade nicht wirklich passiert. Ich kniff fest die Augen zusammen und öffnete sie wieder, in der Hoffnung, ich hätte nur geträumt.

„Entschuldigen Sie, könnte ich kurz… danke, könnten sie ganz kurz, ich muss nur schnell, ich war eben schon da.“, ich schob mich durch die zu verdurstende und verhungernde scheinende Traube an Menschen, die mich empört von allen Seiten beäugte. Ab und zu warf mir einer ein „Hey, wir warten auch!“, hinterher. Ein Mann fuhr seine Ellbogen extra breit aus, um mir den Weg zum Tresen zu versperren. Ich kämpfte mich durch die Schlange, als wäre sie ein Dickicht.

„Ich dachte, Sie haben kein Wasser?“, ich schrie und versuchte gleichzeitig souverän zu lächeln.
„Wasser is‘ alle“
„Aber die Frau eben. Die Frau hat doch eben ein Wasser gekauft!“
„Dit war dit Letzte“
„Ich war doch aber VOR ihr da!“
„Für mich sieht dit aus wärn se nach ihr da jewesen. Und vorjedrängelt ham Se sich auch.“

„Sie… Sie sind doch Abschaum. Sie haben nur EINEN Job, EINEN einzigen. Der wäre gewesen, mir ein WASSER zu verkaufen! Nicht mal das kriegen Sie hin. Wissen Sie was? Ich wurde vor einer Woche von meinem Mann verlassen, weil der nämlich einen anderen Mann bumst. Meinen alten Schulfreund Mirko! Ist das zu fassen?! Seelenruhig habe ich versucht zu bleiben. Habe Verständnis gezeigt. Wissen Sie was? Ich will kein Verständnis mehr zeigen! Ich habe es SATT Verständnis zu zeigen! Mein ganzes Leben geht gerade den Bach runter und Sie schaffen es nicht mal, mir Wasser zu verkaufen und mein Leben wenigstens ein bisschen weniger schrecklich zu machen. Nein. Stattdessen ruhen Sie sich auf diesem jämmerlichen Job als Bistroverkäufer der Deutschen Bahn aus und kriegen nicht mal den auf die Reihe! Wissen Sie was? Ich verklage Sie, sobald wir hier raus sind! So sieht’s nämlich aus!“
„Dit könnse mir erzähln wenn Se dran jewesen sind. Na jutn Tach auch, man man man.“

Zurück an meinem Platz auf dem roten Ledersessel, setzte sich mir gegenüber ein junges Mädchen. Sie war vielleicht 8, höchstens 9, und kramte in einem türkisenen Rucksack, auf dem violette Raumschiffe zu sehen waren. Sie schob mir eine kleine Thermoskanne entgegen und lächelte: „Wasser!“, sie sprach gebrochenes Deutsch.

Jetzt fing ich an zu heulen. So richtig. Es ließ sich nicht aufhalten. Die Tränen kullerten an meinen Wangen entlang und ich ächzte, schluchzte, heulte Rotz und Wasser. Das Mädchen packte verstört die Flasche wieder ein und rannte davon. Und dann setzte sich der Zug endlich wieder in Bewegung.

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Fotos via Unsplash

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