Ich möchte meinen Freundinnen erklären, wie es sich anfühlt, Non-Binär zu sein. Ein Versuch:

9. September 2021 von in

“Fühlt ihr euch so richtig als Frau, wenn ihr ganz tief in euch hinein horcht?”

Diese Frage habe ich meinen beiden besten Freundinnen gestellt, als ich mir mal wieder den Kopf darüber zerbrach, ob mit mir etwas nicht stimmt. Ich wollte wissen, ob sie die Frage bejahen können, denn ich kann es nicht.

Wir kennen uns seit 10 Jahren. Wir sind zusammen aufgewachsen, haben auf den Fußböden unserer Kinderzimmer gesessen und uns Geheimnisse erzählt. Wir haben Schule geschwänzt, uns in der Pause Zigaretten geteilt. Zusammen haben wir gelernt, Bücher gelesen über Feminismus, über den Unterschied zwischen dem sozialen und biologischen Geschlecht. Wir haben gelernt, Menschen nach Pronomen zu fragen und geben unser Bestes, sie richtig zu benutzen.

Eigentlich kennen wir uns aus mit Themen wie Geschlechterrollen, queer sein und so. Doch gerade jetzt, als es darum geht über die eigenen Gefühle zu sprechen, fehlen uns die Worte.

„Ich verstehe irgendwie nicht, was du meinst.“, sagt eine Freundin. Mir wird klar, was eigentlich offensichtlich ist: Meine Freundinnen sind tatsächlich Frauen, und bleiben es auch beim erneuten Nachfragen. Insgeheim hatte ich eine andere Antwort erwartet. So was wie: „Als Frau? Nicht so richtig.“ Oder wenigstens: „Ja schon, aber…“. Ich war fest davon überzeugt, dass sie meine Verunsicherung über die eigene Geschlechtsidentität teilen. Dass auch sie sich diese Frage schon sehr häufig gestellt hatten.

„Vielleicht bin ich non-binär“, sage ich, eher fragend.

Die Verwunderung über ihre eindeutige Antwort, lässt die Zweifel an meiner eigenen Geschlechtsidentität wachsen. Ich hatte doch schon so viel darüber gelesen. Mich inhaltlich damit beschäftigt. Ich kenne schlaue Theorien voller schlauer Worte, die mir eigentlich ermöglichen sollten, zu beschreiben, was ich fühle.

Aber nichts da. Ich sitze vor meinen Freundinnen, die mich seit Jahren kennen und schaffe es nicht.
Heute, fast ein Jahr später, wage ich einen neuen Versuch.

Eigentlich war ich schon immer unsicher mit meiner Geschlechtsidentität. Als Kind wurde ich ständig gefragt, ob ich ein Mädchen oder ein Junge sei. Zähneknirschend habe ich geantwortet: “Ein Mädchen“. Ich war sauer, denn das hat mir nicht gepasst. Ich wollte lieber auch sein wie die Jungs. Jungs, die Bäume hochkletterten ohne Angst. Die auf dem Fußballplatz standen, ohne sich komisch zu fühlen. Die dreckig waren, sich gehauen haben und rennen konnten. Ich war es nicht, und das fand ich blöd, obwohl ich schneller war als die meisten und dreckig nach Hause kam. Gehauen habe ich mich auch manchmal, nur auf den Fußballplatz habe ich mich nicht getraut.

Das Gefühl zog sich so dahin, bis der Bolzplatz abgelöst wurde von schüchternen Blicken auf dem Schulhof, MSN-Chats mit Jungs aus der Parallelklasse und Geheimbünden mit Freundinnen. Plötzlich wollte ich nichts mehr als ein richtiges Mädchen sein. Ein Mädchen, das immer gekämmte Haare hat und leise lacht.

So ging es weiter auch in meinem erwachsenen Leben. Auf der Arbeit, in Freundschaften und Beziehungen. In ständigem Vergleich mit einem selbst gemachten Ideal von Weiblichkeit und Männlichkeit und ich immer dazwischen.

Wenn ich mich ansehe, sehe ich irgendwie keine Frau.

Ich sehe meine Eltern, die mir mein Gesicht und meinen Körper gegeben haben. Ich sehe die Orte, an die mich meine Muskeln tragen. Meine Freund*innen und Liebhaber, die ich umarme. Ich habe versucht, diesen Körper weiblicher zu machen, indem ich ihn anziehe, schminke oder versuche schlanker und kleiner zu werden. Ich habe ihn in Klamotten gesteckt, die mich breit und groß haben aussehen lassen, sodass ich mich stark fühlen konnte und unbesiegbar. Ich hatte Tage, da habe ich versucht, jemand anderes zu sein.

Heute weiß ich, ich bin das alles. Alles existiert gleichzeitig.

Die Stärke, die Wärme, die Kraft. Die gemachten Nägel, das ungeschminkte Gesicht. Der schüchterne Blick zu Frauen, die scheinbar ganz automatisch wissen, wie sich eine richtige Frau verhält. Die suchenden Blicke zu Männern, von denen ich dachte, ich könnte sie nie erreichen.

Mir haben lange die Worte gefehlt, um zu beschreiben, wie ich mich fühle. Heute kommt es mir vor, als hätte ich ein Alphabet, aus dem nur langsam Worte und Sätze werden. So ein Wort ist Non-Binär und es hilft mir, mich besser zu verstehen.  Aber es ist eben auch nur ein Wort. Und ein einzelnes Wort, das eine ganze Gefühlswelt beschreiben soll, kann nicht richtig sein.

Für mich ist Non-Binär ein Angebot, unter dessen Schirm sich Menschen über ihre Erfahrungen austauschen können. Ich versuche mit dem Konzept meine Gefühlswelt beschreiben zu lernen. Es ist kein Outing und nicht mit Forderungen verbunden – dafür ist es noch zu klein und zu schüchtern und vielleicht bleibt es auch so. Für den Moment ist es ein Weg, mich so zu akzeptieren, wie ich bin.

Einige Zeit später sitze ich mit meiner Freundin im Auto. „Sag mal …“, fragt meine Freundin beiläufig, als wir an einer Ampel halten.
„Soll ich jetzt eigentlich irgendwas beachten? Wegen dem Non-binär, meine ich.“ Ich schüttle den Kopf. „Nein, musst du nicht.“, sage ich.
„Es ändert sich ja nichts für uns.“
Das fühlt sich richtig an und als die Ampel grün wird, fahren wir weiter.

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