Kennt ihr das Gefühl, einfach nur noch zu funktionieren? Volle Tage, Wochen, Monate vor sich zu haben, und immer nur von einer Aufgabe zur nächsten zu leben? Einen Berg Verantwortung mit sich herumzutragen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Und sich zusätzlich zum normalen Hamsterrad aus Arbeit und Alltag immer wieder neue Aufgaben und Sorgen aufladen zu müssen, die man einfach nicht abgeben kann?
Diese Gefühle drückt der Film
„An einem schönen Morgen“ der Regisseurin Mia Hansen-Løve, der seit Kurzem auf
MUBI läuft, ziemlich treffend und in gewaltig schöner Bildsprache aus. Der Film zeigt eine Frau namens Sandra, die in ihrem Pariser Alltag fast nur für die Anderen funktioniert. Gespielt wird sie von der wunderschönen Léa Seydoux, die ich schon seit vielen Jahren verfolge und die in diesem Film eine ganz besonders interessante, weil so alltägliche Rolle einnimmt. Sandra funktioniert für ihre Tochter, die sie alleine aufzieht, für ihren kranken Vater, den sie betreut und der im Laufe des Films aus seiner Wohnung in ein Heim umziehen muss, oder auch für die Menschen, deren Reden sie als Dolmetscherin übersetzt. Durchatmen oder sich anlehnen kann Sandra in ihrem Alltag kaum. Denn auch, als sie etwas mit einem verheirateten Bekannten anfängt, werden die schönen und kraftspendenden gemeinsamen Stunden schnell von einem aufreibenden Hin und Her des neuen Partners überlagert, statt ihr Kraft und Stabilität zu geben.
„An einem schönen Morgen“ beschäftigt sich mit dem Thema Mental Load, den wir alle auf unterschiedliche Weise tragen müssen, und der manchmal immer gewaltiger wird und irgendwann aus dem Ruder laufen kann. Wenn der Alltag ohnehin schon sehr eng getaktet ist, man sich zum Beispiel um Angehörige kümmert, alleinerziehend ist oder einen fordernden Beruf hat, und dann noch zusätzliche Dinge passieren, die einen aus dem Gleichgewicht bringen, wird alles manchmal einfach zu viel. Der Film zeigt aber auch die Gleichzeitigkeit, die es in überfordernden Situationen geben kann: die kleinen Momente zwischendurch, die einem guttun. Das Ausblenden der Verpflichtungen zwischendurch, um wieder Kraft zu sammeln. Und trotzdem weiterzumachen, auch wenn es so viele belastende Baustellen gibt.
Passend zum Filmstart auf MUBI haben wir euch gefragt: Was waren oder sind in eurem Alltag Situationen, in denen euch der Mental Load zu viel wird? In denen ihr selbst kaum mehr Luft bekommt und einfach nur noch funktioniert? Und was hilft euch in genau solchen Situationen? Hier kommen 3 Geschichten über ganz unterschiedlichen Mental Load aus unserer Community!
Christina, 45
2018 war der nie enden wollende Jahrhundertsommer, mit langen, langen Badetagen am See. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass dieses so verheißungsvolle Jahr so apokalyptisch enden und ins nächste Jahr übergehen würde. Mein 74-jähriger Vater, der in typischer Babyboomer-Manier noch nie in seinem Leben krank gewesen war, erkrankte Anfang Dezember schwer an einem hochaggressiven Blut- und Knochenkrebs und verstarb völlig unerwartet zehn Tage nach der Diagnose, kurz vor Weihnachten. Kurz darauf ging mein damaliger spanischer Freund zurück nach Madrid, da ihn zu großes Heimweh nach sechs Jahren in Deutschland plagte.
Eine Woche nach der Beerdigung bin ich wieder arbeiten gegangen, musste aber feststellen, dass kaum jemand sich angemessen sensibel zeigte im Angesicht meines Schicksalschlags. Meine deutlich jüngeren Teamkolleginnen gingen dazu über, mich zu mobben, und ich habe mich nach einigen Monaten kurzzeitig krankschreiben lassen. Die Kündigung ließ nicht lange auf sich warten. Man sagt immer, dass infolge eines Trauerfalls zwei Drittel des Freundeskreises wegbrechen, da viele nicht wissen, wie sie mit der Trauer umgehen sollen. Und sich im Zweifelsfall einfach nicht mehr melden, so geschehen auch bei mir. Es erübrigt sich anzumerken, dass meine gesamte Familie im Ausland wohnt, sodass ich mehr oder weniger eine One-Woman-Show stemmte. Eine große Stütze in der Zeit war unerwarteterweise meine Nachbarin, von Beruf Krankenschwester, die mich regelmäßig bekocht hat und mit mir Einkaufen gegangen ist.
Auch wenn der Kummer groß war, war ich nicht gewillt, tiefer und tiefer in ein Loch zu rutschen. Ich habe wieder mit Sport angefangen – in der Nähe meiner Wohnung war ein High-End-Fitnessstudio mit Schwimmbad. Gerade Pilates hat mir sehr geholfen, bei aufkeimenden Angstzuständen meine Atmung zu regulieren und meine Balance wiederherzustellen. Was mir aber vor allem geholfen hat, war meine ehrenamtliche Tätigkeit in einem nahegelegenen Flüchtlingszentrum, wo ich mich in der Hausaufgabenbetreuung, im Deutschunterricht und in der Supervision von Wochenendaktivitäten für Kinder tatkräftig eingebracht habe. Es hat mir im Nachhinein sehr geholfen, etwas für andere zu tun und meinen eigenen Schmerz etwas zu relativieren. Diese Aktivität hat mich auch darin bestärkt, einen neuen Berufsweg einzuschlagen und eine universitäre Ausbildung zur Lehrerin anzustreben.
Esra, 31
Ich habe mehrere Jahre mit meinem Partner zusammengelebt, der psychisch sehr belastet ist. Das hat sich nicht nur stark auf unsere Beziehung, sondern natürlich auch auf den Alltag ausgewirkt. Ich habe mich also meistens um den Haushalt, den Einkauf und auch um ihn gekümmert. Habe seine Arzttermine ausgemacht, war für ihn da und habe auch sonst jede schlimme Phase hautnah miterlebt. Da es mir selbst dadurch immer schlechter ging und ich gemerkt habe, wie instabil ich wurde, bin ich aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen und wohne nun wieder allein. So kann ich meine Kräfte sammeln, wieder versuchen mehr ich selbst zu sein und dadurch auch meinen Partner wieder besser zu unterstützen. Ihm tut es auch gut, so wieder mehr zu sich selbst zu finden und „für sich selbst da zu sein“.
Für andere mag der Auszug wie ein Rückschritt in der Beziehung klingen und man wird immer komisch angeschaut, warum man denn trotzdem noch die Beziehung führe. Für uns ist es eher ein Schritt nach vorn – die Beziehung ist uns sehr viel wert, aber man sollte immer auf sich und die eigenen Bedürfnisse achten. Wenn das Zusammenleben nicht funktioniert, ist das eine gute Lösung.
Tonja, 35
Wir versuchen, Kind und Beruf gemeinsamerziehend unter einen Hut zu bekommen und es klappt nur mit sehr, sehr viel Aufwand, Kraft und offen gestanden deutlich größeren Opfern, als ich im Vorfeld gedacht hätte. Wir sind ein Paar, das versucht, alles gleichzeitig zu haben, unser Kind, ein Familienleben und unsere Berufe. Ich mache im Spätsommer Staatsexamen, mein Freund ist Unternehmensberater, für den beruflich oft alles plötzlich und schnell neu geregelt werden muss. Er verreist oft kurzfristig oder kommt nicht zurück wie ursprünglich geplant, dann muss er wieder von zu Hause, aber total ungestört arbeiten, während unser Sohn schon von der Kita zurück ist und während ich lernen muss. Wir bekommen es immer irgendwie hin, gehen aber ziemlich auf dem Zahnfleisch.
Mir würde es helfen, wenn sich meine in der Nähe lebende Familie mehr einbringen und zuverlässig auf unseren Sohn aufpassen würde, wenn Not am Mann ist: Ihn aus der Kita abholt, wenn ich es nicht rechtzeitig schaffe, mit ihm spielt, wenn wir arbeiten oder lernen müssen oder einfach mal wieder in Zweisamkeit zusammen Abendessen wollen.
Ich bereue meine Mutterschaft absolut nicht. Aber mein altes Leben fehlt mir, sehr und oft. Es ist schlichtweg beides wahr: Ich liebe mein Kind über absolut alles, so wie nichts und niemanden zuvor. Und gleichzeitig trauere ich um so vieles, so wichtiges und so definierendes.
Mir würde es helfen, nicht jede einzelne Minute meines Tages verplant zu sein. Nicht immer umfangreich planen und umplanen zu müssen, wenn ich etwas alleine oder mit Freunden unternehmen will. Schlafen. Ausschlafen. Und generell Dinge zu Ende tun zu können, und nicht in jedem Satz, jedem Gedanken so oft unterbrochen zu werden, bis ich ihn nicht mehr fassen kann. Ohne den Mental Load zu leben, immer alle Termine im Kopf und die richtigen Sachen dabei haben zu müssen. Und auch nicht den vielen ungefragten Meinungen der anderen ausgesetzt zu sein, den teils krass übergriffigen Fragen. Was mir auch fehlt ist, keine schlimme Angst um jemanden zu haben. Und auch unsere Beziehung, wie sie war. Ich hatte die Veränderung, die die Beziehung mit kleinem Kind durchläuft, unterschätzt. In wie vielem man sich eins sein muss, damit es weiterhin gut läuft. Und allem voran fehlt mir Zeit, einfach Zeit zum Sein.
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hier eure Geschichten zum Vater-Kind-Verhältnis erzählt habt. Auch zum Film „Alle reden übers Wetter“ habt ihr uns
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2 Antworten zu “Mental Load: Was hilft mir, wenn ich nur noch funktioniere?”
Liebe Milena,
voll interessanter Artikel, danke fürs Sichtbarmachen!
Was ich schade finde ist, dass das erste Adjektiv, mit dem du die Hauptdarstellerin Léa Seydoux beschreibst, „wunderschön“ ist. Ist sie definitiv. Aber auf jeden Fall auch noch sau viel mehr und irgendwie hat es direkt so ein aufs Äußere reduzierende Geschmäckle.
Weißt du was ihc mein?
Liebe Grüße!
mae
Ja, da war ich glaube ich vom Film „La belle personne“ beeinflusst, in dem sie die Hauptrolle spielt und durch den ich sie entdeckt habe. Eigentlich wollte ich das Gegenteil sagen, dass sie gerade in „An einem schönen Morgen“ eben nicht auf ihre Schönheit reduziert wird, sondern ganz alltäglich, ungeschminkt und nicht im üblichen verführerischen Kontext dargestellt wird wie in vielen ihrer anderen Filme, und ich das besonders toll und spannend an diesem Film finde!