(Un)erwachsen: Wer bin ich, wenn niemand hinguckt? Eine Anleitung zum Alleinsein
Dieser Text von Lisa Ludwig erschien zuerst auf Vogue.de
Eine Anleitung zum Alleinsein: Die Sonne scheint, als wollte sie uns etwas beweisen. Doch mein Kalender ist ähnlich leer wie deutsche Biergärten. Ich bin 31, Single und lebe allein. Ich kann mich kaum daran erinnern, wann ich das letzte Mal jemanden umarmt habe. Hosen trage ich nur noch zum Einkaufen – was in Berlin übrigens einer der wenigen Gründe ist, aus denen man die eigenen vier Wände guten Gewissens verlassen kann. Und das alles, damit wir nicht alle am Coronavirus sterben.
„Immer denkst du nur an dich!“, sagt die Stimme in meinem Kopf, die ich mir zugelegt habe, um mich nicht laut mit meinem Deko-Karussellpferd unterhalten zu müssen. Ich meine: Was sollen die Nachbarn denken? „An wen denn sonst?“, antworte ich niemandem. „Es ist ja sonst keiner da.“
„Wer sich an der Einsamkeit ergötzt, ist ein wildes Tier oder ein Gott“, hat der Philosoph Francis Bacon mal geschrieben. Allein sein bedeutet für mich: loslassen können. Zumindest in der Theorie. Nicht umsonst gibt es Memes dazu, wie man zu Hause direkt BH und Jeans in die Ecke wirft, sobald die Haustür ins Schloss gefallen ist. Make-up runter, Haare hoch, Doppelkinn raus. Leute sagen mir oft, dass ich eine beeindruckend gute Körperhaltung hätte. Das liegt daran, dass ich in der Öffentlichkeit permanent den Bauch einziehe.
Durch meine eigenen vier Wände schlurfe ich wie
ein ausgelaugter Tanzbär und fühle mich wohl dabei.
Ich bin Journalistin. Mein Job ist es, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und in einer Form wieder auszuspucken, die alles ein bisschen verständlicher und spannender macht. Ich bin so routiniert darin, Gesprächspartnern das Gefühl zu geben, dass sie der faszinierendste Mensch der Welt sind, dass der Großteil meiner Tinder-Dates nicht einmal auf die Idee kommt, mir eine Frage zu stellen. Warum auch? Ich bin kein Mensch, ich bin ein Gefäß, das die Welt mit all ihren Geschichten in sich aufnimmt. Damit ich nicht überlaufe, brauche ich Ruhe. Und die habe ich zur Genüge. Ich wohne allein, habe keinen Partner, kein Kind und den Großteil meiner Whatsapp-Gruppen habe ich auf stumm geschaltet. Bisher ging es mir eigentlich ganz gut damit. Dann kam die Corona-Krise.
Jetzt fühle ich mich wie ein wildes Tier in Gefangenschaft. Ein wildes Tier mit sehr viel Weißwein. Trotzdem bleibe ich… leer. Da sind keine anderen mehr, die mich füllen, nur ich. Also beschließe ich, meine ganz eigene Art von Hospitalismus zu entwickeln. Statt manisch auf und ab zu tigern und darauf zu warten, dass irgendjemand die Tür zum Käfig öffnet, werde ich die Zeit nutzen, mich mit mir selbst zu versöhnen. Lernen, meine eigene Leere zu ertragen. Und genau das solltet ihr auch tun.
Vergesst diesen Selbstliebe-Achtsamkeits-Quatsch, für den ihr euch vorher mit personalisierten Yoga-Matten, überteuerten Duftkerzen und Disney+ (nicht jede hatte eine Kindheit, an die sie sich gern zurückerinnert!) eindecken müsst. Stellt euch stattdessen eine simple Frage: Wer bin ich, wenn niemand hinschaut? Und lasst euch mal so richtig gehen.
Die erste Regel des Alleinsein-Klubs lautet: Redet über das Alleinsein. Ständig. Erhebt es zu einem Teil eurer Identität, dem Totschlagargument, mit dem ihr jede andere Befindlichkeit zur Lächerlichkeit verdammt. Einsamkeit ist so groß, so episch, so dramatisch, es wurden schon ganze Bücher darüber geschrieben. Suhlt euch sich in diesem Zustand wie Hunde in verdorbenem Fisch. (Wir erinnern uns: Wir sind wilde Tiere.)
Ghostet die Leute, die euch besserwisserisch erklären, dass Alleinsein und Einsamkeit nicht das Gleiche sind. Semantik ist egal, wenn es sich gleich anfühlt.
Hamstert Alkohol, wenn ihr euch dann besser fühlt. Jetzt, wo ihr genug Klopapier, Nudeln und Hefe habt, um die nächsten fünf Reichsbürger-Compilations von Xavier Naidoo in einem unterirdischen Bunker zu überdauern. Aber übertreibt es nicht. Wisst ihr, warum in der popkulturellen Zombie-Apokalypse niemand schon mittags komplett besoffen ist, obwohl es so naheliegend erscheint? Weil es an der Situation an sich absolut gar nichts ändert. Alkohol ist dafür da, Momente erträglich zu machen. Keine vorläufige Ewigkeit.
Und COVID-19 ist wie Zombies: Das geht nicht so schnell wieder weg.
Rennt innerlich gegen Wände, während ihr unbeweglich auf der Couch liegt. Verflucht euch anschließend dafür, es nicht wirklich getan zu haben. Das hätte Kalorien verbrannt.
Macht euch über die Leute lustig, die die Corona-Krise dazu nutzen, jeden Tag Sport zu machen, sich selbst Sprachen beizubringen oder ein Buch zu schreiben. Hasst euch dafür, dass ihr es nicht tut. Bleibt auf diesem Selbsthassfilm einen kompletten Abend hängen und bekommt nachts kein Auge zu. Fragt euch am nächsten Morgen überrascht, wie es eigentlich sein kann, dass ihr die ganze Zeit so erschöpft seit. Erkennt schließlich, dass es im Kapitalismus keinen revolutionäreren Akt gibt, als nur das absolute Minimum zu leisten. Ihr seid nicht faul, ihr seid eine Freiheitskämpferin.
Die Suche nach meinem wahren, ungekünstelten Isolations-Selbst hat Wochen gedauert und mehrere Eskalationsstufen durchlaufen.
Mal hatte ich das Gefühl, an meiner Einsamkeit zu ersticken, dann wieder schien mir nichts unerträglicher, als mit einer anderen Person und ordentlich Sicherheitsabstand durch polizeikontrollierte Parks zu laufen und schon wieder darüber sprechen zu müssen, wie total verrückt gerade alles ist. Natürlich ohne zuzugeben, dass man mehrfach die Woche unkontrolliert in Tränen ausbricht, weil einem die Situation eine Scheißangst macht.
Was mache ich, wenn ich es nur vor mir selbst rechtfertigen muss? Wer bin ich, wenn niemand hinguckt? Keine Ahnung. Ein heulendes Wrack? Nicht akzeptabel.
Ich habe mir YouTube-Playlisten mit Fatburner-Yoga angelegt und kein einziges Mal aufgerufen. Ich habe Rezepte ausprobiert und verworfen, mal meine Wohnung bis in die letzte Ecke geputzt, mal über Tage hinweg zwischen ungespültem Geschirr und zusammengeknüllten Klamotten gelebt. Je nach mentaler Verfassung.
Im letzten Monat habe ich so bereits wichtige Dinge über mich gelernt:
Erstens: Ich mache auch dann keinen Sport vor der Arbeit, wenn ich vom Bett zu meinem Arbeitsplatz lediglich zehn Sekunden brauche und jeden Morgen 30 Minuten im Bad spare. Ich kann also endlich damit aufhören, mich selbst zu belügen.
Zweitens: Meine Haut wird nicht besser, wenn ich mich weniger schminke.
Drittens: Ich trinke nicht deswegen so gern Wein, weil ich andere Menschen sonst nicht ertragen kann. Ich trinke Wein, um mich besser zu ertragen.
Viertens: Mein Krisenmodus ist es, mit vegetarischer Lasagne auf der Couch zu liegen und Highlights aus besonders dramatischen Bundestagsdebatten auf YouTube zu gucken. Dabei trage ich meinen neuen Kunstfell-Mantel, in dem ich aussehe wie eine Raubkatzen-Statistin aus „Tiger King“. Früher wäre ich so niemals vor die Tür gegangen. Mein neues „Fuck it“-Ich tut es und trägt dazu eine Sonnenbrille, die ihr Gesicht noch mehr nach spektakulär großem Supermond aussehen lässt.
Seid unproduktiv oder kreativ. Seid dramatisch, seid unbequem. Seid laut oder leise, schwach oder stark. Seid echt, seien ihr selbst. Seid Tier und Gott. Fick dich, Francis Bacon. Wir müssen uns hier gar nicht entscheiden.
Photocredit: Lisa Ludwig/Vogue
(Anmerkung zum Text: Er wurde von Sie auf Du passend zu unserer Zielgruppe umgeschrieben)
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Eine Antwort zu “(Un)erwachsen: Wer bin ich, wenn niemand hinguckt? Eine Anleitung zum Alleinsein”
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