Liebe entfernte Bekannte und flüchtige Gesichter: Ich vermisse euch!
Als ich vor drei Jahren nach Berlin zog, war mein erster neuer Bekannter der Besitzer des nächsten Spätis. Ihm fiel sofort auf, welche Sorte Chips ich am liebsten mag, mir, dass er beim Friseur war. Auch mein erstes Interview für die Uni führte ich mit ihm. Wir saßen auf Bierkästen und sprachen über die Gentrifizierung in Neukölln und wie er mit seinen Cousins die heruntergekommene Eckkneipe zu einem Spätkauf umbaute. Dann bin ich umgezogen. Seitdem sehen wir uns nur noch selten.Mit der neuen Wohnung kam ein neuer Späti mit neuem Besitzer. Er weiß, welche Limo ich mag, mir fällt jede Änderung in seinem Sortiment auf. Wir machen Scherze und lachen. Ich kenne ihre Nachnamen nicht und sie nicht den meinen – keine Freunde, nur Bekannte. Seit Corona gehe ich kaum noch zum Späti. Und wenn doch, dann nur schnell hinein, einkaufen und flott wieder hinaus. Kein Scherz, kein Witz, nur Oriental Chips und eine Matcha-Limo.
Mehr als Musik und Rausch
Die Medienlandschaft machte sich vor ein paar Wochen über die Jugend lustig, die Feiern vermisst. Ich verstehe sie. Partys sind nicht nur Musik und Rausch. Es sind die fremden Menschen, die einen Rave erst zu einem machen. Da ist die Frau, die einen angrinst, weil man das gleiche Top trägt, der Typ, der einem Shots ausgibt, weil er heute einen neuen Job bekommen hat und das einfach feiern möchte.
Doch auch abseits der Feten merke ich, mir fehlt etwas. Liebe entfernte Bekannte und flüchtige Gesichter: „Ich vermisse euch!“ Denn vor Corona verteilte ich Komplimente auf der Straße, witzelte mit jedem Verkäufer und diskutierte mit Fremden in der U-Bahn. Jetzt laufe ich auf der Straße Slalom, um nicht überdeckten Mündern und Nasen auszuweichen, bestelle hauptsächlich online und denke mir meine nett gemeinten Kommentare. Schließlich will ich mich und andere schützen. Ich habe Angst davor, dass mein Witz, mein Kompliment dazu führt, dass ein paar Tage später, jemand einen positiven PCR-Test vorweisen kann.
Menschliche Anprobe
Gleichzeitig wird mir immer bewusster, wie wichtig diese Momente waren. Dass ich genau sie gerade bräuchte. Ich habe sie maßlos unterschätzt. Die Fremden und Bekannten waren es, die mir an stressigen Tagen ein flüchtiges Lächeln geschenkten und mich inspirierten, ging mir die Kreativität aus. Ohne sie fehlt mir ein wenig der Antrieb. Zum einen haben sie mir eine Routine geschenkt, die nun in meiner Wohnung komplett verloren gegangen ist. Wie der Mann, der im gleichen Gebäude wie ich arbeitet, den ich bereits an meiner U-Bahnstation sehe. Und die Bedienung im Café, die meine Bestellung schon auswendig kennt. Ist er nicht da, weiß ich, ich bin zu spät dran und hat sie noch nicht offen, bin ich zu früh.
Zum anderen haben Gespräche mit Fremden den Vorteil, dass sie kurzweilig sind. Dabei traue ich mich manchmal mehr, bin auf einmal mein cooleres, lässigeres Ich. Dann hinterfrage ich nicht jeden Satz, bevor ich ihn ausspreche und sage Wörter, die ich mich sonst nicht trauen würde. „Benutze ich ein „sick“ zu viel und merke, das bin ich nicht, fühlt es sich nicht gleich an, als wäre ich peinlich. Und blamiere ich mich wirklich mal, muss ich die Person nie wiedersehen. Fremde sind wie die Anprobe im Laden. Hier kann man sich ausprobieren und auch einmal abseits des Karnevals eine Verkleidung anziehen – nur um zu sehen, ob es vielleicht passt.
Ich habe mich entschlossen, solche Situationen wieder bewusst in mein Leben zu bringen – mit Hygienekonzept, versteht sich. Wenn die Fahrt zur Arbeit und die nächste Party erst einmal passé sind, müssen eben andere Routinen und Menschen her. Bekannte sind schließlich austauschbar. Klingt fies, ist jedoch effektiv. Letzte Woche war es dann soweit. Beim Paket wegbringen meinte der Herr hinter der Theke: „Du als Veganer trinkst keinen Kaffee, oder?“. Vor Monaten hatten wir uns über meine Ernährung unterhalten. Er hat es sich gemerkt. Ich grinste, hinter meiner Maske, und erklärte ihm, dass ich das sehr wohl tue. Wir hatten ein kurzes Gespräch über Milch, Kaffee und Tee. Ein banales, das so guttat. Wie sehr ich es vermisst habe.
2 Antworten zu “Liebe entfernte Bekannte und flüchtige Gesichter: Ich vermisse euch!”
Liebe Noelle,
danke für diesen schönen Text. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich Zufallsbekanntschaften und die Begegnungen mit Menschen, die man nicht so richtig kennt, aber irgendwie eben doch, mal so vermissen würde.
Liebe Grüße!
Liebe Noelle,
gelesen und direkt bemerkt: darüber habe ich mir noch keine bewussten Gedanken gemacht, aber du hast so so recht. Ich vermissen es genauso wie du und wandle meinen Ärger darüber, dass der Paketbote heute ohne zu klingeln mein Paket wieder mitgenommen hat einfach in eine Chance auf eine nette Begegnung bei der Post :)
Liebe Grüße!