Kontrollverlust: Hustle Culture als Coping Mechanismus

9. Juni 2022 von in

Das letzte Mal, als ich das Gefühl hatte, mich nicht mehr greifen zu können, konnte ich nicht stillstehen. Zur Ruhe kommen hätte für mich bedeutet, mich vollkommen auf das Gefühl einzulassen, und das wollte ich zu dem Zeitpunkt nicht. Also tat ich alles in meiner Macht Stehende, um eine Art Kontrolle oder Handlungsmacht zu bekommen. Obwohl mir das Ruder aus den Händen gerissen worden war. Das Einzige, was ich in dem Moment des emotionalen Kontrollverlusts machen konnte, war mich an den Teil meines Lebens zu klammern, der immer funktioniert: Arbeit in jeglicher Form. Ganz egal, ob ich auch gemeinsam mit meinen Freund:innen hätte heulen können. Das war nicht das, was auf die Schnelle geholfen hätt, denn es hätte mir das Gefühl von Kontrolle nicht zurückgegeben.

Mit der Situation klarzukommen ging nur darüber, mein Produktivitätslevel so hoch wie möglich zu halten. Sonst kam das Gefühl, mich selbst nicht mehr fassen zu können. 

 

 

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Coping Mechanismus Hustle Culture: Warum ich lieber arbeite, als verarbeite

Toxic Traits beobachtet man nicht nur an anderen, sondern auch an sich selbst. Oh du schöner Selbstbetrug denkt man dann und macht einfach weiter. Denn solange sich dieses Verhalten im Rahmen beläuft, dann wird es wohl keinem schaden, oder? Sicher bin ich mir da nicht, aber ich bin auch keine Expertin – zumindest nicht auf diesem Gebiet. Doch was ich meisterlich beherrsche, ist mein eigenes (fragwürdiges) Verhalten, wenn es um das Verarbeiten meiner Emotionen geht. Denn solange sie produktiv sind, können sie bleiben. Alle anderen haben Hausverbot und werden vorübergehend bis langfristig ausgelagert. Wieso auch die Bude vollstellen mit Kram, den man eh nicht mehr braucht. Oder?

Und Produktivität ist doch super – finde nicht nur ich. Schließlich wimmelt es da draußen nur so von GiRlBoSsEn und ThAt GiRlS, die genau das zum Erfolgsmodell gemacht haben. Damit meine ich natürlich nicht den darin implizierten Coping Mechanismus, aber immerhin haben sie uns eine Möglichkeit dafür auf dem Silbertablett präsentiert. Und so stürze ich mich statt in meine Gefühle, lieber in Arbeit. Denn die hält mich am Funktionieren und davon ab, irgendwie die Kontrolle zu verlieren. Denn wer nicht stillsteht, bleibt in Bewegung. Hält das eigene Betriebssystem funktionsfähig, das eins am liebsten tut – Laufen, und zwar wie geschmiert.

Unscharfe Grenzen und die Glorifizierung vom „Grind“

Laut Definition ist das Wort Hustle Culture ein Synonym dafür, sich ausnahmslos auf die Arbeit in Richtung eines bestimmten Ziels zu stürzen. Während man zeitgleich alle anderen Bereiche des Lebens vernachlässigt. Absolut toxisch eigentlich, bedenkt man, dass es bei allem immer um Balance gehen sollte. Das richtige Maß der Dinge – ihr wisst schon. Und obwohl die beschriebenen Tendenzen äußerst ungesund klingen, wird der „Grind“ in unserer Gesellschaft auf Dauerschleife glorifiziert. Auf TikTok, Instagram, YouTube und in diversen anderen Formaten, wird uns in kleinen Portionen eingetrichtert, dass ein hoher Workload normal und sogar erstrebenswert ist. Und genau da liegt der Knackpunkt: Diese Idee der Hustle Culture ist geradezu prädestiniert dafür, um als Rechtfertigungsstrategie genutzt zu werden. Einem sogenannten Coping Mechanismus. Der zwar ein „Problem“ vermeintlich löst, es aber eigentlich nur verlagert. Auf einen unbestimmten Zeitraum.

Die Quintessenz ist simpel: In unserem Produktivitätswahn wird bei allem  entscheiden, ob es Platz oder Raume einnehmen darf oder nicht. „Ne sorry, die nächsten 3 Wochen habe ich erst mal keine Zeit für Bad Vibes. Lass sie lieber Dienstag in 43 Tagen einplanen.“ Und bis dahin erst mal back to Business mit verdoppeltem Workload. Eine Tendenz, die sicherlich auch von meiner Berufswahl mit beeinflusst wird, denn ich verdiene Geld mit Dingen, die ich gerne (und viel) mache. Die Grenzen sind unscharf und ständig mache ich mir in Gedanken Notizen. Und der Hustle ist real. Denn in meinem Kopf ist immer was los, und ich kann ihn nun mal nicht einfach abschalten wie einen Computer. Er läuft 24/7 und ich lass mich gerne von ihm leiten. Auch mitten in der Nacht. Da arbeite ich am liebsten. Zwischen Stille und Dunkelheit lassen sich Gedanken oft besser einfangen. Schwirren in meinem Kopf wie Glühwürmchen und wollen in die richtige Richtung gelenkt werden.

Blick zum Mond und der sagt nicht Stören

— Fatima (she/her) (@njoyalatte) April 6, 2022

Work, work, work, work, work: Der Exzess der anderen Art

Und vielleicht habe ich ein Problem, damit meine Gefühle zu verarbeiten. Das ignoriere ich wissentlich und immer dann, wenn es mir zu viel wird, setze ich gezielt auf Verlagerung. Da gibt es diesen einen Satz, der mir seit meiner Teenagerzeit immer mal wieder durch den Kopf schwirrt. Wir saßen nachts im Auto, zu dritt und haben uns das Herz ausgeschüttet. Wie man das so macht, wenn man adoleszent und inmitten von jugendlichen Verwirrungen steckt. Irgendwer hatte eine halb volle Packung Taschentücher dabei und zwischen Tränen und Lachen wurde unter anderem meine Gefühlssituation analysiert, mit dem Fazit: Bei dir gibt es nur hundert Prozent traurig oder fröhlich sein. Deine Gefühle existieren in Extremen und zu einem gewissen Grad ist das wahr.

Gewusst habe ich das schon immer irgendwie. Denn wenn sie da sind, dann halte ich sie nicht hinterm Berg. Warum sollte man nicht, von Zeit zu Zeit, vollkommen unglücklich sein können, wen man auf der anderen Seite jederzeit vollkommen glücklich sein darf. Balance, nenne ich das und gebe jedem Gefühl den Raum, den es braucht. Oft. Aber nicht immer. Denn je älter man wird, desto mehr Rationalität kommt in das eigene Leben. Ob man das nun gut finden mag oder nicht – doch entziehen kann auch ich mich dem nicht. Also habe ich, an mir selbst, folgendes Phänomen beobachtet: Mein Coping Mechanismus ist Ablenkung. Ein Exzess der anderen Art, denn ich liebe es mich in meiner Arbeit zu verlieren. Dem Rausch der Hustle Culture. Denn manche Umstände lassen sich weder schönreden, noch weinen. Man muss sie fühlen und dafür habe ich persönlich einfach nicht immer die Kapazität.

 

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Strategiespiel: Wie gut ist dein Coping Mechanismus wirklich?

Jeder:jede verarbeitet Dinge anders und ich habe festgestellt, dass es für mich am besten funktioniert, mich mit allen Mitteln abzulenken. Für mich ist das ein bisschen so, wenn man eine Panikattacke hat. Für solche Erlebnisse gibt es Techniken, wie Atmen, zählen oder auf bestimmte Dinge zu konzentrieren, die einen erden und aus dem Tunnel herausholen können. Rituale, feste Abläufe. Denn die geben Sicherheit. Lassen den Puls heruntergehen. Wenn ich also das Gefühl habe, mir entgleitet ein Bereich in meinem Leben, dann halte ich mich an den Nächsten. In der Hoffnung auf diesem Umweg, das Gefühl von Kontrolle zurückzubekommen. Denn ich fühle mich nicht gerne ohnmächtig oder entwaffnet. Grundsätzlich bin ich selten mundtot oder überfordert von und mit mir.

Was mir Unsicherheit bereitet, ist die Unentschlossenheit von anderen. Denn die lässt mich immer ein wenig straucheln und mich selbst hinterfragen.

Jeder Verarbeitungs-Taktik funktioniert anders und es gibt so viele unterschiedliche, oft auch sehr subtile Arten, wie sich so etwas äußert. Einige wirken gesellschaftsfähiger als andere, aber am Ende ist Ablenkung in welcher Form auch immer eine Strategie. Nur das Problem mit ist, Dinge lassen sich zwar temporär auf Eis legen, aber irgendwann tauen sie wieder auf. Und dann wollen sie Beachtung – noch mehr als vorher. Denn sie hatten währenddessen viel Zeit, sich auszubreiten und festzusetzen. Und ähnlich, wie man keine Erkältung verschleppen sollte, sollte man das auch nicht mit Emotionen tun. Die wollen ebenso auskuriert werden.  Gleich und nicht später. Sonst reißen sie immer wieder auf. Lassen dich rückfällig werden. Und daher stellt sich hier immer grundsätzlich die Frage: Wie gut ist dein Coping Mechanismus wirklich und wie lange lässt sich das Problem verlagern?

Coping Mechanismen sind nur kurzzeitige Atempausen – keine Lösungsstrategien

Natürlich weiß ich: Traurig sein gehört dazu. Es ist wichtig und ein essenzieller Aspekt davon, die eigene Gefühlsvielfalt zu erleben. Aber es zehrt auch. Ist anstrengend und raubt Energie, die ich nicht immer übrighabe. Weil ich mich nämlich mit dieser Energie versuche am Funktionieren zu halten. Auch wenn das am Anfang vielleicht mehr einem Automatismus gleicht: Indem Prozess A, auf Prozess B und so weiter folgt. In einer immer gleichen Dauerschleife. An der ich mich durch den Tag hangle. Die mir Stabilität gibt, die ich brauche, um mich zu sammeln. Denn ich weiß sehr gut, wie es sich anfühlt, keine Kontrolle zu haben. Panikattacken ausgeliefert zu sein, die die eigene Machtlosigkeit erlebbar machen. Schön ist das nicht und irgendwie impliziert Traurigkeit eben ähnliche Parameter, weil man sich zu einem gewissen Punkt überfordert mit sich selbst oder einer unbestimmten Situation fühlt.

Und eins ist mir natürlich auch bewusst: Meine Strategie funktioniert nur temporär und früher oder später muss ich mich mit der eigentlichen Ursache auseinandersetzten. Doch mit zeitlichem Abstand lassen sich einige Dinge differenzierter betrachten. Sobald man einen Schritt zurücktritt, werden einige Entscheidungen verständlicher und sind weniger umwölkt von aufgewühlten Emotionen, die sich oft nicht einfach erklären und fassen lassen. Aber am Ende ist es immer wichtig zu erkennen, wieso man etwas tut, zu reflektieren, um dann langfristig daraus lernen zu können.

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6 Antworten zu “Kontrollverlust: Hustle Culture als Coping Mechanismus”

  1. Danke, toller Artikel! Kenne ich selbst viel zu gut – dazu kommt, dass wenn das eigene Selbstbewusstsein über Arbeit, was schaffe ich, definiert wird, das in Krisenzeiten ein Anker sein kann. Um zu sehen, dass ich wohl noch was wert bin, weil ich hustle ja noch. Danke Kapitalismus..

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