Ich brauche genau zwei Klicks, um herauszufinden, was ich – sagen wir – am 22. September 2015 gemacht habe. Das liegt daran, dass meine Festplatte alle Fotos beinhaltet, die sich seit 2004 gemacht habe. Erst waren es vor allem verwackelte Digicam-Selfies in Jugendzimmern, dann meist unvorteilhafte Fotos von Besäufnissen auf innerstädtischen öffentlichen Plätzen, dann erste Smartphone-Schnappschüsse mit unterirdischen Filtern – und jetzt eben auch Fotos aus Instagram-Stories, Screenshots und kurze, nichts sagende Videoclips, die ich – aus welchen Gründen auch immer – vor den digitalen Jagdgründen bewahrt und abgespeichert habe.
Unsere Vergangenheit in Gigabytes
Die meisten von uns haben solche Archive auf verstaubten Festplatten – oder eben online, auf digitalen Friedhöfen wie alten Tumblr-Pages, längst vergessenen Facebook-Fotoalben und Myspace-Backups. Spätestens seit Beginn der Ära Smartphone, also seit knapp 10 Jahren, gehören private Urlaubs-Diashows der Vergangenheit an. Stattdessen füttern wir Plattformen mit Erlebnissen, Erinnerungen und Eindrücken. Und Vergangenheit findet in digitaler Archivform statt. Nicht selten bedeutet das: Zehn identische Fotos von einem Mittagessen. 1000 Fotos von einer Geburtstagsparty. Austauschbare Touri-Fotos: Ich vorm Eiffelturm, ich am Brandenburger Tor, ich in Venedig. Datei um Datei um Datei, und zusammen ergeben sie: Unsere Vergangenheit, in Form von Gigabytes.
Seitdem übernehmen unsere digitalen Fotoarchive das Erinnern für uns. Das ist keine leere Phrase, denn es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Menschen dazu neigen, sich weniger gut an die Dinge zu erinnern, die sie fotografieren – und das übrigens auch, wenn das Foto überhaupt nicht gespeichert wird. Die Kamera lenkt uns erwiesenermaßen tatsächlich von der Realität ab, wir erleben den Moment weniger intensiv, wenn wir ihn festhalten. Dennoch nehmen wir die Kamera und das Archiv als Erweiterungen unseres Gedächtnisses wahr.
Das aufgedrängte Erinnern
Weil wir alles dokumentieren, müssen wir nichts bewahren, nichts sortieren, nichts nach Relevanz ordnen. Es gibt inzwischen unzählige Apps, die für nichts anderes programmiert worden sind: TimeHop, One Second Everyday oder die Erinnerungsfunktion bei Facebook. Diese digitalen Tools zelebrieren ein aufgedrängtes Erinnern und haben dabei keinen narrativen Plan: Der Screenshot vom U-Bahn-Plan ist für die Software genauso bedeutungsvoll wie das Hochzeitsfoto. Das Archiv bewahrt Momente nicht, weil sie besonders waren, sondern schlicht, weil sie sich ereignet haben. Wer jemals von Facebook einen Jahresrückblick generiert bekommen hat, weiß, wie überaus random die Auswahl der Inhalte ist. Hier werden die Facebook-FreundInnen zu Ko-Autoren der eigenen Geschichte, denn natürlich bekommen die Posts mit den meisten Likes und Kommentaren den prominenteren Platz im Jahresrückblick.
Hier kommt die Technik an ihre Grenzen: Der Algorithmus weiß (noch!) nicht, welche Momente für uns wirklich bedeutsam waren und welche nicht. Er weiß nur, welche das größte digitale Echo hervorrufen konnten. In der Realität, das wissen wir alle, stellt das verwackelte Foto eines versoffenen Kneipenabends, bei dem wir uns frisch verknallt haben (5 Likes) oftmals die schönere Erinnerung dar als der perfekte Sonnenuntergang am Strand, bei dem wir gerade übel PMS hatten (120 Likes).
„Does it spark anything?“
Das Archiv drängt uns eine Form des Erinnerns auf, bei der nichts bedeutungslos ist: Die eigene Geschichte wird zu einer chronologischen Abfolge von Ereignissen, die alle gleich wichtig erscheinen, ohne je eine Wichtigkeit bewiesen zu haben. Führt das dazu, dass wir selbst verlernen, zu unterscheiden zwischen Ereignis und Erlebnis? Dass uns so automatisch solche Momente besser im Gedächtnis bleiben, die am meisten digitalen Zuspruch geerntet haben? Dass wir die Momente vergessen, die für uns bedeutsam waren, aber kein digitales Publikum zu begeistern wussten? Dass Erinnerungen in der Versenkung verschwinden, wenn sie kein passendes Foto generieren? Dass wir unser Leben zunehmend nicht mehr als Narrativ, sondern als bloße Chronologie verstehen? Könnte es sein, dass wir uns deswegen zunehmend verinnern? Und wenn ja: Was können wir dagegen tun?
Ich bin ein richtiger Dokumentationsjunkie – nicht erst, seit es Smartphones oder Social Media gibt. Im Gegensatz zu den meisten Menschen schaue ich mir die Massen der gespeicherten Fotos und Videos ziemlich oft und gerne wieder an. Das sorgt dafür, dass ich einerseits ein sehr genaues Verständnis dafür habe, was ich wann erlebt habe, aber auch dazu, dass ich dazu neige, all die Momente zu vergessen, bei denen ich gerade keine Kamera zur Hand oder schlicht nichts zu Fotografieren hatte. Das sorgt für eine optische Überlagerung der Erinnerung: Alles, was nicht bildlich festzuhalten ist, verschwindet aus dem Fokus. Das ist schade und stumpft ab. Was kann man tun?
Wir brauchen eine Marie-Kondo-Bewegung für unseren biografischen Datenmüll. Dabei sollten wir nicht fragen „Does it spark joy?“ (schließlich sind auch eher unangenehme Erinnerungen durchaus relevant und gehören zu unserer Biografie), sondern „does it spark anything?“. Nach diesem Motto könnten wir radikal all die Daten löschen, die nichts sagend, redundant und austauschbar sind. Und dann in Zukunft vielleicht wie früher, als Fotos noch analog und wertvoll waren, öfter überlegen, welches Motiv es tatsächlich verdient hat, Teil unseres Archivs zu werden. Und, noch besser: Öfter mal zu Formen des Aufzeichnens zurückkehren, die nicht aufs Sharen ausgelegt sind und mehr darstellen als eine bloße, archivarische Momentaufnahme: Ein Tagebucheintrag, zum Beispiel. Eine Momentbeschreibung, ganz ohne optische Darstellung.
Am 22. September 2015 war ich übrigens mit FreundInnen in einer Kneipe Karten spielen. Eine schöne Erinnerung, es war ein witziger Abend. Außerdem finden sich im Archiv dieses Tages: Fünf beinahe identische Umkleidekabinenselfies und ein Screenshot von einem Tweet.
Bildcredit: Molly Soda