Kolumne: Wie erholt man sich von Ruhe?
Es kommt einem heute vor wie eine dumpfe Erinnerung aus einer längst vergangenen Zeit: Das Gefühl, erschöpft zu sein von zu viel Action, von zu viel Erlebnissen. Ich spreche von Verabredungen und Events, die außerhalb der eigenen vier Wände und ohne eine Laptopkamera funktioniert haben – oft mehrere an nur einem einzigen Tag! Könnt ihr es euch vorstellen? Ich kaum noch, denn wie die meisten Menschen schleiche ich seit März meist brav in einem Radius von fünf Metern um mein Bett herum.
Die aufregendsten Termine, die ich wahrnehme, sind Spaziergeh-Dates in einem anderen Viertel.
Vor Kurzem hab ich mich dabei erwischt, wie ich ganz aufgeregt war, weil ich mit einer Freundin zusammen zu einer Postfiliale gehen wollte. So weit ist es gekommen! Ich beobachte, wie ich durch diese Reizunterforderung ziemlich dünnhäutig werde: Wenn ich einmal im Monat doch mal in einer vollen U-Bahn lande, dann sind meine Synapsen direkt überlastet, mein Gehirn geht in den Fluchtmodus und ich komme völlig ausgelaugt zu Hause an. Jemand Neuen kennenlernen fühlt sich plötzlich an wie ein Bewerbungsgespräch: Man weiß gar nicht mehr, wie man sich in solchen Situationen natürlich verhalten soll. Man rutscht einfach sehr viel schneller in die Überforderung.
So weit, so normal: Wir sind eben alle ein bisschen aus der Übung.
Das Mysteriöse ist allerdings, dass dieses Ausgelaugtsein inzwischen nicht nur von einer Reizüberflutung herbeigeführt wird, sondern auch von einem Reizmangel. Früher war es unkomplizierter: Wenn man gestresst war, dann musste man ein paar Tage wenig tun und erleben und dann ging es einem etwas besser. Denn die Welt vor Corona war nahezu besessen vom ständigen Erleben: Eine Realität, in der das Event – in welcher Form auch immer – ein Prestigeobjekt geworden ist, das ständig zur Schau gestellt werden musste. Das war anstrengend, und um sich davon zu erholen brauchte man Ruhepausen. Aber diese Logik funktioniert nicht mehr.
Denn für diese Erschöpfung, die wir gerade alle erleben, bräuchte man das Gegenteil: Ein bisschen Action, ein Erlebnis, ein bisschen Exzess, ein bisschen Katharsis.
Mal kurz Ausrasten. Tanzen, schreien, singen, richtig laut lachen – eben Dinge, für die man andere Menschen braucht, damit sie richtig gut funktionieren.
Als es noch FOMO gab – vor Corona –, war es ein kleiner revolutionärer Akt, sich diesem Erlebnisdruck nicht unterzuordnen und ihn abzulehnen. Das nannte man dann JOMO, also „Joy of missing out“. Aber selbst das ist heute unmöglich, denn wenn es gar nichts mehr zu verpassen gibt, dann handelt es sich einfach nur um eine auferlegte Pause von äußeren Reizen. Die Folge? Komplettes Unausgelastetsein.
Was würde ich gerade geben, um mal wieder mit gutem Gewissen in einer schwitzigen Menschenmenge mit lauter Musik zu stehen!
Ich würde inzwischen sogar gerne zum Ballermann oder zurück in die Großraumdisco, in die ich mich mit 17 aus Gruppenzwang geschleppt habe. Für mich als eher introvertierte Person, die Ruhe eigentlich ganz gerne hat und mal eine ziemliche Verfechtern von JOMO war, ist das eine ganz neue Erfahrung. Die Welt vor Corona war mir eigentlich meistens zu hektisch, zu besessen von den ständigen Events. Jetzt will ich mich einfach nur vom Nichtstun erholen und dringend was erleben.
Gleichzeitig habe ich aber auch ein bisschen Angst davor, dass die Welt am Ende dieser Pandemie wieder in den alten Zustand des Dauererlebens zurückkehrt, in dem wir alle eigentlich immer etwas verpassen. Denn mit dieser neuen Dünnhäutigkeit wäre ich nach einer Woche vermutlich dem Burnout nahe.
Es ist ein komplizierter Zustand, in den uns diese auferlegte Erlebnispause bringt.
Ich will so dringend was erleben, gleichzeitig ist meine Kapazität für äußere Reize kleiner als je zuvor. Die Folge: Ich bin immer erschöpft. Denn ich bin immer entweder zu wenigen oder zu vielen Reizen ausgesetzt – es gibt kaum mehr etwas dazwischen. Und so jongliere ich Ruhe und Action jeden Tag durch meinen Alltag und warte, dass dieser kräftezehrende Zustand ein Ende nimmt. Ohne zu wissen, wie dieses Ende genau aussehen soll. Bis es soweit ist, träume von dem bisschen Exzess, das ich bräuchte, um mich von dieser gottverdammten Ruhe zu erholen.
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Eine Antwort zu “Kolumne: Wie erholt man sich von Ruhe?”
Danke für diesen Text! Mir geht es ganz ähnlich. Ich ertappe mich oft dabei, dass ich einerseits am liebsten in engen Bars und Clubs rumtanzen würde (obwohl ich das seit tausend Jahren nicht mehr gemacht habe), aber gleichzeitig mit Furch auf eine Zukunft blicke, in der ich irgendwann ja wieder offline arbeiten „muss“. Als Theaterpädagogin habe ich mich dieses Jahr in die Online-Arbeit verliebt und merke, dass meine Kurse und Workshops nicht nur für meine Kund*innen, sondern auch für mich ein bißchen Min-Exzess bringen. Wir tanzen zusammen, wir lachen, wir haben Spaß. Aber alles weit voneinander entfernt, bei jedem zuhause im Zimmerchen.
Wie habe ich das denn vorher ausgehalten? Vier Abendkurse pro Woche, jedes Mal live vor Ort. Und zusätzlich noch ganze Wochenenden als Dozentin. Kommt mir gerade unvorstellbar anstrengend vor. Aber vermutlich kommt schon alles so, wie es kommen soll. Und irgendwie gewöhne ich mich bestimmt dran. Auch wenn ich dann gern noch ein bißchen weiter online arbeiten möchte – das will ich mir nicht mehr nehmen lassen.
lg,
Sarah