Kolumne: Was wir vom Leben erwarten
Das SZ-Magazin stellte letzte Woche eine spannende Frage, die mich fortan das ganze Wochenende beschäftigte:
„Erwarten wir mittlerweile vom Leben, was wir früher von Büchern erwartet haben?“
Ist das möglich? Ist unser Anspruch an unser eigenes Leben so gestiegen, dass wir all das, was früher ein gutes Buch ausmachte, nun auch für unser Leben gilt? Dass wir die unfassbare Liebe, das Glück, aber auch das Leid in all den Facetten ausleben und am Ende durch ferne Länder reisen, immer mit dem Anspruch, da muss noch mehr kommen, bevor das Ende kommt? Denn eins ist sicher: Teil 2 gibt es im Leben nicht. Oder: War das nicht schon immer so?
Von Büchern erwarten wir so einiges: Spannung – damit wir dranbleiben. Ein aufregender Twist, denn Überraschungen machen Spaß. Vielleicht eine großartige Liebesgeschichte, die uns wegträumen und den Alltag sowie die Sorgen vergessen lässt. Selbst leidvolle Geschichten, seien es Todesfälle, Trauer und Schmerz, haben in Büchern oftmals etwas Tröstliches. Und wenn nicht: Irgendetwas nimmt man doch mit. Bücher entführen uns in andere Welten, lassen uns träumen und entspannen.
Ich lese Bücher, seitdem ich denken kann. Jede Minute meiner Kindheit verbrachte ich in der Bücherei. Träumte mich weg, in ferne Welten, wünschte eine Zeit lang, ich wäre Vampir, um mir dann wiederum vorzustellen, Detektiv zu sein. Später las ich Stephen King und liebte die Absurdität. Noch heute lese ich immer gerade mindestens ein Buch – meistens sind es mehrere. Mittlerweile aber nicht mehr nur Unterhaltungsliteratur, sondern viele philosophische und lebenspsychologische Schriften, die ich mich durch den Alltag begleiten und mich hinterfragen lassen.
In einer Welt, in der all unsere Bedürfnisse erfüllt sind, in der es weder Hunger noch tägliches Leid in Form von Überlebenskampf gibt, in der uns Terroranschläge erschrecken und Angst einflössen, aber wir trotzdem uns in Sicherheit fühlen, steigen die Erwartungen an das eigene Leben.
Das ist in erster Linie erstmal gut. Denn es beweist: Uns geht es gut. Wir müssen uns nicht auf grundlegende Bedürfnisse stürzen und jeden Tag darum kämpfen, sie zu erfüllen. In Zeiten von Luxus und Überfluss rücken andere Fragen in den Vordergrund: Wer bin ich? Führe ich ein erfülltes Leben? Wie will ich arbeiten? Und was erwarte ich von meinem Leben? In solchen Zeiten verändern sich Menschen, eine Gesellschaft hat Zeit, sich zu formen, neue Fragen zu stellen und sich der Sinnsuche hinzugeben.
Diese Sinnfragen, wie ich sie gerne nennen, sollte sich jeder einmal stellen. Was tue ich gerade, wo stehe ich und was habe ich eigentlich erreicht? Ist nicht eigentlich mal an der Zeit, stolz zu sein, statt ständig nach mehr zu suchen?
Denn – das ist die Krux an jenem Überfluss: Mit steigenden Möglichkeiten steigen auch die Erwartungen. Von einem selbst sowie von der Gesellschaft. Plötzlich reicht es nicht mehr, jedes Jahr ins selbe Land zu reisen. Hey, Flugreisen sind günstig, also sie dir die Welt an! Plötzlich muss es ein Auto sein, auch wenn man eigentlich nur super selten eines braucht. Auch in der Liebe steigt der Anspruch. Es muss knallen, funken und die halbe Hütte abbrennen, sonst, ja sonst, ist das irgendwie nicht das Wahre, oder? Live your dream wird zum Leitspruch, wer das nicht tut, verschwendet – naja – irgendwie das Leben, oder?
Erwartungen ans eigene Leben sind gut, genauso wie die Erwartung, wenn ich ein Buch lese, das es mich erfreut. Ziele setzen ist ein Leitfaden – doch, und das vergessen wir gerne in unserer Welt: Leben ist nicht planbar. Das Leben lässt sich nicht wie ein Roman schreiben – mit dem Wissen, wie das Ende sein muss. Es nimmt Wege, die wir auf der Karte gar nicht erkannt haben, es lässt uns oft verblüfft zurück, haut uns Steine in den Weg und wäscht uns hin und wieder auch den Kopf. Manchmal hetzen wir von einer erreichten Erwartung im Leben zur nächsten. Kann doch nicht alles gewesen sein, und vergessen gerne dabei, innezuhalten, durchzuatmen und zu sehen: Eigentlich ist gerade alles ziemlich gut. Vielleicht lieber eine Runde wegträumen, als sich dem Stress der nächsten Zielgeraden hinzugeben.
Denn die wirklich unerwarteten Dinge sind meist jene, an die wir uns erinnern. Die Dinge, die passiert sind, als wir gerade etwas ganz anderes wollten, die uns überrascht haben und viele Seiten unseres Lebens so erzählenswert machen. Das eigene Leben lebenswert machen, unbedingt. Träume versuchen zu verwirklichen, nicht darauf zu warten, ohja. Aber sich hin und wieder überraschen lassen. Erwartungen hinterfragen – und vielleicht von einer anderen Seite betrachten. Überlegen, sind die gesellschaftlichen Erwartungen auch meine? Oder vielleicht bin ich mehr Krimi als Rosamunde Pilcher? Oder doch mehr ein Comic? Vielleicht auch irgendwie alles? Wer weiß.
Am Ende des Wochenendes hatte ich keine richtige Antwort auf die Frage des SZ-Magazins. Aber das ist am Ende auch die Antwort: Ich erwarte von meinem Leben, dass es gut wird. Schön ist. Mir Spaß macht. Und das erwarte ich auch irgendwie von einem Buch.
Ob sich das immer so erfüllt – beim Buch wie im Leben? Das wissen wir erst am Ende. Aber das hält uns nicht davon ab, es zu lesen. Oder eben zu leben.