Manchmal kneife ich mich, weil ich nicht so ganz glauben kann, was für ein unfassbares Glück ich mit meinen Freunden habe. Bis auf wenige Ausnahmen war ich noch nie der Typ Mensch, der in eine komplette Freundschaftsgruppe integriert oder fest in einer Clique verankert war. Stattdessen habe ich meistens zu Einzelpersonen Bezug aufgebaut. Deshalb habe ich eigentlich keine Freunde, auf die ich nicht unheimlich stolz bin. Keine Freunde, deren Gesellschaft mir – frei nach Marie Kondo – nicht uneingeschränkt Freude bereitet. Belastende oder belanglose Freundschaften kenne ich schon lange nicht mehr, falls überhaupt jemals.
Kolumne: Von Fernfreundschaften und Alltagsmomenten
Aber das bedeutet auch, dass ohne etablierte Gruppennormen und Routinen in Sachen zwischenmenschlicher Kontakt nichts so wirklich selbstverständlich ist. Man trifft sich nicht sowieso am Wochenende zum gemütlichen Frühstück oder jeden Donnerstagabend auf ein Glas Wein in der Runde. Jede Freundschaft ist eine bewusste Entscheidung, einen Teil seiner wertvollen Zeit und Aufmerksamkeit zu investieren, um die Verbindung aufrechtzuerhalten. Das ist nicht immer einfach. Und wenn die wichtigsten Menschen in deinem Leben zufälligerweise auch noch tausende Kilometer entfernt wohnen, dann muss man sich gleich doppelt und dreifach Mühe geben. Vor allem, wenn man weiß, dass rein statistisch gesehen aus fast jeder Freundschaft vermutlich irgendwann eine Fernfreundschaft wird – sei es nur vorübergehend oder doch auf Dauer.
Ein Teil meines Alltags
Wenn es so etwas wie einen Lifehack für Freundschaften gibt, dann besteht dieser meiner Meinung nach darin, sich gegenseitig so reibungslos wie möglich in den Alltag zu integrieren – auch wenn neben Arbeit, zwischenmenschlichen Beziehungen und kreativen Projekten manchmal nur wenig Zeit für regelmäßigen und selbstverständlichen Kontakt bleibt. So richtig schwierig wird das ganze erst, sobald dich mehr als sechs Stunden Zeitverschiebung von den engsten Freunden trennen. Aber eigentlich ist das auch schon ab dem Moment nicht ganz so einfach, in dem man sich nicht mehr spontan auf einen Kaffee treffen kann, ganz egal ob da eine Stunde Zugfahrt oder zehn Stunden Luftlinie zwischen euch liegen. Mit meiner Freundin und ehemaligen Mitbewohnerin Kima habe ich das über die Jahre ziemlich perfekt gemeistert. Als ich in Singapur gewohnt habe, haben wir teilweise fast täglich auf meinem Heimweg nach meinem morgendlichen Workout gesprochen. Ich startete verschwitzt und genauso entspannt wie erschöpft nach 45 Minuten HIIT in meinen Tag; sie putzte Zähne, während wir über Gott und die Welt redeten und unsere Perspektive jedes Mal ein bisschen mehr erweiterten. Gerade trennen uns nur noch sechs Stunden Zeitverschiebung und wir schaffen es, mehrmals pro Woche zu telefonieren, wenn wir beide auf dem Heimweg sind; ich nach meinem ziemlich pünktlichen Feierabend, sie nach einem späten Abend im Labor. Zu einer meiner liebsten Routinen zähle ich inzwischen unsere pre-Date Gespräche – wenn ich abends nach der Arbeit noch verabredet bin, rufe ich sie an und sie lenkt mich so gut es geht von meinen Nerven ab, während ich mich zuhause auf meinem Schlafzimmerboden vor dem Spiegel schminke. Trotz der Distanz ist Kima somit fest in meinem Alltag verankert. Ich habe das Gefühl, dass wir uns heutzutage mindestens genauso nahe stehen wie damals, als wir in Edinburgh drei Jahre lang zusammen gewohnt haben. Und vielleicht sind wir sogar noch ein bisschen näher zusammengerückt.
Wochenendbeziehungen und Weihnachtsbesuche
Meine Freundin Jasmin und ich haben eigentlich bis auf ein gemeinsames Jahr in London immer eine Fernfreundschaft geführt. Doch obwohl ich 2011 nach Schottland gezogen bin, haben wir es trotzdem immer geschafft uns zu sehen, wenn ich zuhause in Deutschland war. Egal wie wenig Zeit wir hatten – wenn ich es mal nicht für eine Übernachtung nach Stuttgart geschafft habe, dann kam sie eben für einen Nachmittag zu mir nachhause. Was für ein Luxus, als wir dann ein Jahr lang in derselben Stadt gewohnt haben und auch so richtig schön am Wochenende Tee trinken gehen, Bullet Journal schreiben und zusammen Geburtstag feiern konnten! Als ich daraufhin nach Singapur gezogen bin, hat Jasmin mich gegen Ende meiner Zeit dort für zwei Wochen besucht. Dass eine Freundin sich so viele Arbeitsstunden freischaufelt und um die halbe Welt fliegt, nur um mit mir Zeit zu verbringen – das hat mir richtig viel bedeutet.
Aber wir können natürlich nicht jedes Mal gemeinsam die Tropen unsicher machen. Während ich im Herbst nervös und ziemlich ungeduldig auf mein US Visum wartete, habe ich spontan ein Ticket nach London gebucht, um ein paar Tage bei Jasmin und ihrem Freund zu verbringen. Und als ich neulich 48 Stunden in Paris verbracht habe, ist Jasmin kurzerhand in den Zug gestiegen, um 24 davon mit mir zu teilen. Ich weiß, dass ich mich auf Jasmin immer hundertprozentig verlassen kann – und ich hoffe, ihr geht es genauso. Ich werde nie vergessen, als mir in Berlin 2012 der Geldbeutel inklusive sämtlicher Akten und Bankkarten gestohlen wurde und Jasmin, die glücklicher- und zufälligerweise zu dem Zeitpunkt auch vor Ort war, ohne zu fragen oder mit der Wimper zu zucken mit einer Notfallgeldspritze vor der Türe stand, um mir über die Runden zu helfen, bis ich wieder Zugang zu meinem Bankkonto hatte.
Fest im Herzen verankert
Es gibt natürlich auch Freunde, mit denen man zwar nicht dauernd Kontakt hat, die aber trotzdem ganz fest in deinem Herzen verankert sind. Ich habe so einige Freunde, für die ich sofort alles stehen und liegen lassen würde. Wenn man sich dann nach Monaten oder Jahren wieder sieht, knüpft man nahtlos dort an, wo man aufgehört hat. So geht es mir zum Beispiel mit meinem Freund Zack. Wir sind zusammen mit dem Zug von Edinburgh nach Oxford gezogen – er war für mich die wichtigste Bezugsperson vor Ort, hat mir durch einige ziemlich schwierige Zeiten geholfen und stand mir stets mit seinem rationalen und praktischen Rat zur Seite. Wir haben beinahe zeitgleich mit dem Programmieren angefangen und uns gegenseitig inspiriert und motiviert und jedes Mal wie blöd gefreut, wenn es unsere Lieblingspestopasta in meiner College Kantine gab. Ähnlich verhält es sich auch mit ehemaligen Mitbewohnern. Mit Ally bin ich das ganze letzte Jahr durch dick und dünn gegangen und es war mir eine Ehre, Singapur mit ihm gemeinsam erleben zu dürfen. Jetzt lebt er in London, und ich bin in New York, und wir sehen uns allerhöchstens alle paar Monate, wenn er beruflich hier ist. Das war vor allem am Anfang komisch, und das fühlt sich auch jetzt noch ein bisschen seltsam an – gar nicht unbedingt in dem Zeitraum zwischen den Treffen, aber direkt danach, wenn ich merke, wie sehr es mir fehlt, meinen Alltag mit ihm zu teilen. Ich habe momentan auch wunderbare Mitbewohnerinnen – trotzdem es ist etwas anderes, wenn man ein Jahr lang vor Ort mehr oder weniger auf sich alleine gestellt ist und so einiges miteinander durchmacht. Aber natürlich bleibt die Freundschaft bestehen, auch wenn man nicht mehr jeden Sonntag Badminton spielen, eine Poke Bowl bestellen und The Good Wife schauen kann.
Der Wert banaler Alltagsmomente
Wenn man sich nicht mehr so einfach sehen kann, dann weiß man diese Alltagsroutinen auch viel mehr wertzuschätzen. Jede gemeinsame Stunde ist kostbar – je alltäglicher, desto unbezahlbarer. Ich erinnere mich jetzt noch gerne daran, wie ich am Silvestermorgen bei meinen Freunden Ella und Silvan in Berlin in der Küche gemütlich Kaffee getrunken und Aufbackbrezeln gegessen habe und an ihrer Alltagsroutine teilhaben durfte. Oder wie ich meine Freundin Kima in Tokyo nach einer durchtanzten Nacht um 12 Uhr mittags aus dem Bett geschmissen habe, damit sie noch rechtzeitig ihre Wäsche in die Capsule Hotel Waschmaschine schmeißen konnte. Wie ich mit Jasmin vor ihrer Haustür kurz dachte, dass wir uns ausgesperrt hätten und jetzt zum zweiten Mal innerhalb einer Woche den Schlüsseldienst rufen müssten – nur, um dann zu bemerken, dass Jasmin ihren Schlüssel die ganze Zeit in ihrer Hand hielt. Und wie ich gemeinsam mit meinem Freund (und Arbeitskollegen) James mindestens zweimal pro Woche auf der Dachterrasse unseres Büros Kaffee getrunken, über das Leben diskutiert und all seine Lunchideen vehement abgelehnt habe. Diese kleinen (und manchmal auch ziemlich großen) Alltagsmomente fühlen sich viel luxuriöser an als jeder teure Cocktail auf einer schicken Dachterrasse.
Es ist selten zu spät für eine Nachricht
Ab und zu muss man sich trotz allem eingestehen, dass manche Freundschaften nicht aus dem richtigen Material gemacht sind, um mit der Zeit stärker zu werden, egal wie gerne man das hätte. Manche Freundschaften zerbröseln, und manche Freundschaften verblassen und auch wenn man die andere Person immer noch fest in sein Herz geschlossen hat, lebt man sich langsam auseinander. Ich habe oft so etwas wie Schuldgefühle, wenn ich an die vielen wunderbaren Menschen denke, die mich auf einem Teil meines Weges begleitet haben und zu denen ich keinen oder nur noch sehr sporadischen Kontakt habe. Denn jeder engen Freundschaft habe ich so viel zu verdanken – Geborgenheit und stundenlanges Lachen, Inspiration und bedingungsloses Vertrauen. Und vor allem das Gefühl, dass man diese Sache mit dem Leben zusammen schon hinkriegen wird.
Natürlich gehören zu einer Freundschaft immer zwei – verantwortlich fühlt man sich aber trotzdem, wenn der Kontakt abbricht. Ich bin mir sicher, fast jeder kennt dieses Gefühl, wenn man aus irgendeinem doofen Grund auf die letzten Facebook oder WhatsApp Nachrichten nicht geantwortet hat und sich fragt, ob es jetzt irgendwie blöd ist, sich so verspätet noch zu melden. Aber ich weiß insgeheim auch, dass es eigentlich nie zu spät ist, den Kontakt zu suchen – und ehrlich zu sagen, dass man es ganz schön bereut, so lange gewartet zu haben.
Eine Antwort zu “Kolumne: Von Fernfreundschaften und Alltagsmomenten”
Liebe Ilinca,
du sprichst mir aus der Seele! Meine Freunde sind zwar bis auf wenige Ausnahmen nur über Deutschland verstreut, aber trotzdem ist es gar nicht einfach und doch so schön regelmäßig und unregelmäßig Kontakt zu halten.