Kolumne: Vom Fäden drehen und sich selbst überraschen
Manchmal läuft das Leben so anders als man dachte, dass es fast so wirkt, als würde das jemand extra machen. Als würde da ein kleines Figürchen irgendwo sitzen, das die Fäden des eigenen Lebens in den Händen hält, und wenn man gerade denkt, diese Richtung jetzt, die ist es, dann lacht das Figürchen in sich hinein und dreht alle Fäden einmal kräftig in die komplett andere Richtung.
Wir haben bestimmte Vorstellungen und Wünsche an uns, unser Leben, unseren Alltag. Wir identifizieren uns mit den einen Dingen, und lehnen die anderen komplett für uns ab. Und manchmal sind wir so drin in diesem Tunnel aus „das bin ich“ und „das bin ich auf gar keinen Fall“, dass wir überhaupt nicht mehr in Erwägung ziehen, irgendwas herumzudrehen und ganz anders zu denken, etwas Gegensätzliches auszuprobieren oder uns mit etwas herauszufordern, das sich erstmal ganz und gar fremd anfühlt.
„das bin ich“ – und „das bin ich auf gar keinen Fall“
Bei mir gab es eine Sache, von der ich neun Jahre lang absolut überzeugt war, die ein für alle mal und komplett hinter mir gelassen zu haben. Mit der ich vor einem Jahr plötzlich wieder konfrontiert wurde, was sich erstmal wie ein Panik-Faustschlag anfühlte. Und die sich dann, ganz plötzlich und ganz unerwartet, als eine der besten Dinge herausgestellt hat, die mir gerade hätten passieren können: Die Rede ist vom Leben in einer WG. Einer Erwachsenen-WG, um genau zu sein.
Meine ersten zwei WG-Versuche mit 18 und 19 Jahren liefen eher mittelmäßig. Die erste Wohngemeinschaft wurde überschattet vom cholerischen Freund meiner Mitbewohnerin, die zweite, eine Dreier-„Mädels“-WG, die ich nicht selbst gegründet hatte, von sehr vielen „Mädels“, die rund um die Uhr unter dem großen Sex-and-the-City-Poster in der Küche saßen und Weinschorle tranken. Das war alles nett und lustig, aber irgendwie so, als hätte mir jemand ein Leben übergestülpt, das einfach nicht meins war. Und das wurde mir erst so richtig klar, als ich in meiner ersten eigenen Wohnung saß, die so ganz und gar ich war, dass ich überhaupt erst herausfinden konnte, wer und wie ich überhaupt bin.
Wohne ich ab sofort wieder mit einer Mitbewohnerin – ungefähr ein Jahrzehnt nachdem ich dieses Thema endgültig für mich abgehakt hatte?
Die nächsten Jahre wohnte ich meist alleine oder mehrmals mit einem Partner – beides Zustände, die sich weiterhin nach meiner Idee von mir selbst anfühlten. Beim Alleinewohnen konnte ich die Einrichtung bis ins Detail so gestalten, wie ich das wollte, und ob ich gerade in Putz- und Perfektions-Laune war, interessierte nur mich und niemanden sonst. Das Zusammenleben mit Partnern war natürlich komplizierter, erforderte aber auch nicht die Flexibilität, die eine WG von einem verlangt. Und dann war ich plötzlich mit der Situation konfrontiert, in der ich mich entscheiden musste: Ziehe ich aus der Wohnung aus, in der ich mich gerade eingelebt habe, oder wohne ich ab sofort wieder mit einer Mitbewohnerin – ungefähr ein Jahrzehnt nachdem ich dieses Thema endgültig für mich abgehakt hatte.
Eine WG steht und fällt mit den Menschen, die in ihr wohnen
Eine WG steht und fällt natürlich mit den Menschen, die in ihr wohnen – und die Person, die bei mir einzog, hätte meine WG-Ängste nicht besser entkräften können. Denn mit meiner neuen Mitbewohnerin wurde aus der bisherigen Pärchenwohnung eine Art Familienwohnung, für sie, mich und unsere Freundesfamilie. Plötzlich war da eine meiner engsten Freundinnen, der ich künftig in der Küche beim Kaffeekochen begegnete, mit der ich mich im Homeoffice-Wohnzimmer ausbreitete, die immer selbstgemachte Hafermilch in den Kühlschrank stellte und mit der ich auch ganz selbstverständlich nicht reden konnte, die mich wie auch ich sie ganz wunderbar in Ruhe lassen konnte. Und die einfach zu so einem ein angenehmen Part in der Wohnung und damit in meinem engsten Alltag wurde, wie ich es bisher nur von meiner Familie kannte.
Der große Unterschied zu meinen bisherigen WG-Erfahrungen: Das jetzt hatte nichts mehr mit der Lebensphase zu tun, in der man frisch von zu Hause ausgezogen ist und sich ausprobiert. In der ständig Leute in WG-Küchen rumhängen und jedem egal ist, wann abgespült oder saubergemacht wird. Eine WG ist nicht zwingend ein Ort eklektischer Wohnstile aus Überbleibseln verschiedener Menschen, in der im Kühlschrank immer mindestens die Hälfte abgelaufen ist. Eine WG kann auch erwachsen sein – und zu etwas ganz anderem werden, als ich bisher dachte.
Eine WG kann auch erwachsen sein – und zu etwas ganz anderem werden, als ich bisher dachte.
Die sogenannte Erwachsenen-WG ist ein bisschen wie das Zusammenleben mit einem Partner, aber eben mit Freund*innen – und sie kann einen mindestens genauso wohligen, schönen und chaosfreien Alltag schaffen, in dem man genug Ruhe und Konzentration findet, sich aber auch eingebettet fühlt in das ganz persönliche Sozialleben. Wenn die Bewohner über ihre wilden Phasen schon hinaus sind, gerne putzen und schönes Ambiente zu schätzen wissen, wenn alle einen Arbeitsalltag haben und die Wohnung als Rückzugs- statt After-Hour-Ort schätzen, dann entsteht ein ganz neues Konzept. In dem die Wahl-Familie so zur eigenen Lebensrealität und zum eigenen Alltag wird, wie es sonst nur Partnerschaften schaffen.
Denn sich näher zu kommen als beim Zusammenwohnen geht kaum – und doch wagen wir diesen Schritt ab einem gewissen Alter nur noch mit den Partnern, oder verbarrikadieren uns in unseren Einzimmer-Apartments, die sich dann eben ganz und gar nach uns selbst anfühlen. Lassen wir allerdings Freund*innen in unseren engsten Alltag, oder gründen eine ganz neue Wohnsituation mit ihnen, entsteht gerade jetzt in unserem Alter eine unerwartet magische Wohlfühlsituation. Denn wir wissen heute viel mehr, wer wir sind und mit wem wir klarkommen, als mit 20.
Wir wissen heute viel mehr, wer wir sind
und mit wem wir klarkommen, als mit 20.
Heute haben wir unsere Jobs und unseren Alltagsstress und viel weniger Zeit für Verabredungen und lange Nächte. Doch anstatt nach der Arbeit ins Bett zu fallen, Verabredungen aufzuschieben oder sie wie zusätzliche Termine zu behandeln, können wir sie in unseren Alltag einbetten. Wir können einen Teil unseres Soziallebens auch zu Hause stattfinden lassen, einen gemeinsamen Ort schaffen, der uns Nähe wie Ruhe gibt. Lange Diskussionen und gemeinsame Fernsehabende mit den Mitbewohnern und den Freunden, genau wie das Gefühl von jeder-für-sich, aber eben doch nicht ganz allein.
Knapp ein Jahr später weiß ich, dass eine WG das beste ist, was mir gerade hätte passieren können. Sie hat mir gezeigt, dass Geborgenheit so viele Facetten hat. Dass, wie Gunda Windmüller treffend sagte, das Wichtigste im Leben Beziehungen sind – im Plural. Dass, auch wenn ich den Spruch durchgekaut finde, die besten Dinge wirklich außerhalb der comfort zone passieren. Und dass da noch wahnsinnig viel mehr Konzepte, Abzweigungen und unerwartete Fähigkeiten in mir stecken, als ich zu wissen glaubte.
6 Antworten zu “Kolumne: Vom Fäden drehen und sich selbst überraschen”
Ein sehr schöner Text, liebe Milena, der mich auch an eine schöne Zeit in meiner Erwachsenen-Berufstätigen-WG erinnern. Meine damalige Mitbewohnerin ist immer noch eine meiner engsten Freundinnen, auch wenn mittlerweile jede mit ihrem Partner zusammen lebt. Ich finde jedes Wohnmodell hat seine Berechtigung und sich als erwachsener, berufstätiger Mensch für eine WG zu entscheiden erfordert oft Mut, weil es eben doch unkonventioneller ist, aber wenn man den/die richtige Person zum Zusammen wohnen findet, wird man definitiv belohnt! LG thea
Mut erfordert es absolut, und am Anfang hatte ich den überhaupt nicht – von mir aus hätte ich mir dieses Modell auch nicht ausgesucht. Aber in dieser konfusen Situation vor einem Jahr war es dann letztlich das Beste, das mir hätte passieren können, und mittlerweile sehe ich viele Vorteile daran, die mir davor gar nicht klar waren :) Das heißt natürlich nicht, dass die anderen Wohnmodelle besser oder schlechter sind, sondern eher, dass man in bestimmten Lebenssituationen auch in unserem Alter die WG vielleicht doch nochmal für sich in Erwägung ziehen könnte.
Danke für den schönen Text, der das schiefe Pizzaschachteln-Stapeln-Sich-Image der WG ein bisschen gerade rückt, liebe Milena. Ich drücke die Daumen, dass Du weiterhin so bereichernde Mitbewohner*innen hast.
Was ich mir bei den wirklichen so lesenswerten längeren Beiträgen auf eurem Blog (und in jeder Zeitschrift… I know) in letzter Zeit häufiger aufgefallen ist, sind die Dopplungen die sich beim Lesen dadurch ergeben, dass einzelne Sätze hervorgehoben werden. Das gibt natürlich einen wunderbaren Überblick und bricht den Fließtext auf – schon klar – aber mir gibt das immer das Gefühl, dass die eigentlichen „Essentials“ in den euren klugen Texten zu insistierenden Wiederholungen werden, die ich beim Lesen überspringen muss. Würde etwas fehlen, wenn man, statt sie zu wiederholen, die betreffenden Sätze einfach direkt in größerer Schriftart tippen würde?
Versteht mich bitte nicht falsch – das ist alles andere als eine Beschwerde und mir ist durchaus bewusst, dass ihr euch da an ein gängiges Format haltet.
[…] werden immer besser, je älter ihre Bewohner*innen sind. Denn je weiser man ist, desto besser weiß man, was man will und wie man diese Bedürfnisse kommuniziert. Dabei kann ein wunderbar ausgeglichenes Zusammenleben […]
[…] finde und für immer dankbar für die Erfahrung der letzten Jahre sein werde, über die ich z.B. hier geschrieben habe, oder die Jowa hier thematisiert […]
[…] und der Überzeugung, nie wieder in einer WG leben zu werden, wurde ich, wie das so oft passiert, vom Leben überrascht. Und stellte fest, dass eine WG mit Freundinnen, mit vertrauten Menschen, aber auch mit […]