Kolumne: Die Verantwortung für den Anderen

25. Februar 2020 von in

Carmen Buttjer lebt in Berlin und schreibt über Menschen, die aneinander vorbeischreddern und durch das Feuer streunen. Die kleinen Momente, die man im Alltag oftmals übersieht, und das Magische im Banalen werden in ihren Texten zur Hauptrolle. Im Sommer 2019 ist ihr Buch „Levi“ im Verlag Galiani erschienen. In ihrer VOGUE-Kolumne „Wenn ich von Sex rede“ schreibt sie über zwischenmenschliche Verwirrungen, Einsamkeit und sexuelle Fantasien.

Dieser Text von Carmen Buttjer erschien zuerst auf VOGUE.de

Es ist knapp eine Woche her, als ich mit einem Freund kurz nach Mitternacht in der Küche stand, wir kochten. Ich weiß nicht mehr was, aber woran ich mich noch sehr gut erinnere, ist die Diskussion, die wir dabei hatten. Sie begann damit, dass er mir von einem Date mit einer 19-Jährigen erzählte. Er selbst ist 39. Ich mag ihn, aber diese 20 Jahre Altersunterschied störten mich. Am Anfang wusste ich nicht einmal, warum. Wenn ein/e 25-Jährige/r etwas mit einer/m 45-Jährigen hat, denke ich nicht darüber nach, 30 und 50, egal, 55 und 75, genauso egal. Der erste Gedanke, den ich in dieser Nacht hatte, war: selbst verantwortlich. Auch das bedeutet sexuelle Selbstbestimmung. Derselbe Gedanke, den mein Freund auf der anderen Seite des Küchentisches hatte.

Trotzdem weiß ich nicht, ob dieser Gedanke nicht zu einfach ist. Auf der anderen Seite gibt es 19-Jährige, deren Perspektive ebenso differenziert ist, vielleicht sogar differenzierter als die eines 40-Jährigen und ebenso sind da 39-Jährige, die auch mit Gleichaltrigen keinen gleichberechtigten Sex haben, wie auch die, die mit allen, egal mit wem, auch mit Anfang 20-Jährigen, emotional erwachsene Beziehungen entwickeln. Das macht es genauso individuell wie schwierig, es für alle gleichwertig unter einem Gesetz zusammenzufassen.

Wenn es um Sex geht, existiert so etwas wie ein einheitliches Schutzalter in Deutschland nicht, auch wenn es zunächst so scheint.

Das juristisch festgelegte Alter sexueller Selbstbestimmung ist 18 Jahre, anders als bei 16 oder 14 Jahren hängt es ab diesem Alter nicht mehr davon ab, wie alt der andere ist. Ob über 21 oder nicht. Denn das ist die nächste Altersgrenze, die einen juristisch vom Heranwachsenden zum Erwachsenen und damit auch umfassend strafmündig macht. Es geht mir weniger darum, dass diese Altersgrenzen an Gesetze geknüpft sind, denn Gesetze sind fiktional. Sie wurden erfunden und sind viel mehr an den kulturellen Kontext gebunden, sie verändern sich und können sich je nachdem wo und wann man lebt auch widersprechen.

1977 zum Beispiel wurde in der französischen Tageszeitung „Le Monde“ eine Petition veröffentlicht, in der die Aufhebung des schon damals bestehenden Verbots der Pädophilie gefordert wurde. Unterschrieben hatten die Petition unter anderem die Kunstkritikerin Catherine Millet, der Dichter Louis Aragon, die Philosophen Gilles Deleuze, Roland Barthes und Jean-Paul Sartre als auch die Schriftstellerin Simone de Beauvoir im Kontext des Libertarismus, der Liberalisierung der Gesetze und – der sexuellen Befreiung und Selbstbestimmung. 43 Jahre später ist dieser Gedanke undenkbar und wirkt lediglich wie der Versuch einer Entkriminalisierung von sexuellem Missbrauch.

Was die sexuelle Selbstbestimmung des einen ist, wird zum sexuellen Missbrauch des anderen.

Das Gesetz markiert die Grenze zwischen dem Jugendschutz und der sexuellen Selbstbestimmung, der Legalität, aber mehr auch nicht.
Ich wusste selbst mit 23 und auch mit 25 nicht, was Erwachsensein wirklich bedeutet, stattdessen kam es mir so vor, als würde ich es nur vortäuschen, ich kannte die ungefähren Regeln, ich wusste was ich tun muss, um erwachsen zu wirken, aber nichts davon ließ mich den Vorsprung einholen, den die ebenfalls zehn bis fünfzehn Jahre älteren Menschen hatten, mit denen ich geschlafen habe.

Einen Vorsprung an Beziehungen, an Nächten, in denen man um vier durch die Stadt geradelt ist, um doch noch diesen einen Gedanken loszuwerden, an körperlichem Selbstbewusstsein, an Sex, an Tagen, an denen man verlassen wurde oder selbst Schluss machte, und auch an manipulativem Verhalten und unbewussten Glaubenssätzen.

Und selbst wenn man das alles schon hundertmal erlebt hat, so oft, dass sich so etwas wie eine Routine entwickelt haben sollte, stelle zumindest ich fest, dass es immer wieder anders, immer wieder neu, manchmal einfacher, oft immer noch schwierig ist, herauszufinden, was ich tun soll, wie wir miteinander umgehen sollen und was der Unterschied zwischen Egoismus und Selbstbestimmung ist. Freiheit, Selbstbestimmung, diese ganzen großen Wörter bringen neben den Dingen, die wir alle lieben, natürlich auch Selbstverantwortung mit sich, aber vielleicht eben auch die Verantwortung gegenüber dem Anderen, die gesetzlich neben Zahlen und Daten schwer festzulegen und zu vereinheitlichen ist.

Zu allen Folgen der Kolumne „Wenn ich von Sex rede“ von Carmen Buttjer auf VOGUE.de geht es hier!

Bild: Augusto BM

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