Eigentlich bin ich ein Quitter. Ich bleibe selten konsequent bei einer Sache, und wenn ich es doch versuche, dann fühlt es sich früher oder später erzwungen an und ich verliere die Motivation. Mit dem Tagebuchschreiben ist es irgendwie anders. Es begann als Klischee. Ich war zwölf, ultrapubertär und ultraverwirrt und irgendwo musste ich hin mit meinen Gedanken. Also nahm ich ein leeres Schulheft aus dem Schrank, meinen Lamy-Füller aus dem Federmäppchen und fing an, zu schreiben. „Niemand versteht mich!“, „Ich will endlich Ferien haben!“, „Schule ist Folter!“. Man kennt es. Es war das Jahr 2003 und ich hatte keine Ahnung, dass gerade ein roter Faden in meinem Leben aufgetaucht war.
Alles kann, nix muss
Heute, über 15 Jahre später, stehen ganz unscheinbar zehn prallgefüllte Tagebücher in meinem Regal. Es sind – obviously – die wertvollsten Dinge, die ich besitze. Ihr Inhalt hat sich mit den Jahren mit mir verändert. Erste Liebe, Herzschmerz, Freundschaften, Zukunftsvisionen, zweite Liebe, dritte Liebe, Verwirrung, große Gefühle, kleine Gefühle – alles konserviert in meinem Regal, nur für mich allein. Manchmal schrieb ich jeden Tag, manchmal monatelang nicht. Aber ich kam immer wieder darauf zurück, früher oder später. Und immer, wenn ich mir diesen Stapel so ansehe, bin ich verwundert, wie ausgerechnet ich das eigentlich hingekriegt habe. Aber die Antwort lautet: Es klappt, weil es nicht klappen muss.
Ein revolutionärer Akt
Eine Beschäftigung, die nichts mit Selbstoptimierung zu tun hat – das ist in unserer von Produktivität und Leistung besessenen Welt eine Rarität. Alles, was wir tun – auch in unserer Freizeit – soll uns möglichst weiter bringen: Es soll uns klüger, schöner, besser machen. Es ist der Grund, wieso wir selbst Erholungsurlaube mit allen unseren Followers teilen (es sollen schließlich alle sehen, wie effektiv wir uns erholen!), in unserer Freizeit alle dieselben Bücher lesen (man muss doch mitreden können!) und wieso es en vogue ist, ständig gestresst zu sein (wer Stress hat, holt alles aus seiner Zeit raus!). Es gibt kaum noch Aspekte in unserem Leben, die dieser Leistungsgedanke nicht beherrscht. Sich dem zu entziehen ist beinahe unmöglich. Das bringt natürlich Druck in alle möglichen Situationen, in denen er eigentlich nichts zu suchen hat – und sorgt unter anderem dafür, dass es uns zunehmend schwer fällt, Selfcare von Selbstoptimierung zu unterscheiden. Eine Beschäftigung, die frei ist von sozialem Druck, wird immer rarer, je mehr die Gesellschaft in Form von Optimierungswahn und Social Media in unser Privates vordringt.
Das Tagebuchschreiben allerdings hat nichts mit Produktivität zu tun. Ich mache es nicht, um mich zu optimieren. Ich mach es einfach nur so. Weil es mir gefällt. Und ich teile es mit niemandem – mit keinen Freund*innen, keinen Bekannten, und ganz sicher keinen Followers. Das kommt in unserer vernetzten und leistungsorientierten Welt einem revolutionären Akt nahe.
Die Nutzlosigkeit in einer von Nutzen besessenen Welt
Dass das Tagebuchschreiben etwas Therapeutisches hat, ist keine neue Weisheit. Dass dieser therapeutische Mehrwert heute aber auch darin bestehen kann, für einen Moment aus dem ständigen Leisten und Teilen auszubrechen, das unser Leben beherrscht – das dürfte eine recht neue Erkenntnis sein. Für mich jedenfalls ist das Tagebuchschreiben heute heilsamer als je zuvor. Als ich zwölf war, war es ein Werkzeug, das es mir erlaubt hat, meinen hormongeschwängerten Verwirrungen Ausdruck zu verleihen. Heute ist es eine Art letzte Bastion der Nutzlosigkeit in einer von Nutzen besessenen Welt. Es ist auch eine der wenigen Beschäftigungen, die keinen Druck erzeugen: Es geht nicht ums Leisten, es geht nicht ums Abliefern, ich muss mir dabei nichts beweisen. Ich schreibe, wenn ich Lust dazu habe. Wenn ich keine Lust habe, schreibe ich nicht. So einfach ist das.
Jeder Mensch sollte ab und zu etwas komplett Nutzloses tun – und niemandem davon erzählen. Das Tagebuch ist dabei nur eine Option von vielen. Das hier ist mein Aufruf an euch, diese Option mal in Betracht zu ziehen. Einfach nur, weil es euch gefallen könnte.
4 Antworten zu “Kolumne: Schreibt Tagebuch!”
Das ist schon irgendwie witzig. Ich glaube es ist ganz schwer festzustellen, wo „Nutzlosigkeit“ anfängt. Gibt es das überhaupt? Irgendwie hat doch jede Tätigkeit irgendeinen Grund und irgendein Ziel und somit ist es nie nutzlos… Natürlich verstehe ich, was Du meinst ;) Aber ich denke selbst (oder erst recht) für Dich ist das Tagebuch schreiben nicht nutzlos. Doch ja, wir sehnen uns irgendwie alle danach, manchmal auszusteigen aus dem rasenden Zug, den wir Alltag und Leben nennen. Liebe Grüße, Kasia
Klar, das ist relativ! In diesem Kontext meine ich „nutzlos“ im Sinne von monetarisierbar: Es geht nicht darum, am Ende einen Ertrag zu haben. Es geht nicht ums Optimieren. Natürlich sind Aktivitäten wie Tagebuchschreiben sogar sehr nützlich, wenn man zum Beispiel runterkommen will oder ein bisschen Zeit für sich braucht. Nur existieren sie eben außerhalb all dessen, was wir heute tun, um unser Leben noch effektiver zu gestalten. Und das finde ich schön!
[…] schreibe nie Tagebuch, seit Neustem führe ich aber penibel ein Kopfschmerztagebuch. Hier schreibe ich auf, wann die […]
[…] und machen, dass ich mich langweilig fühle, noch verfolgen sie einen produktiven Zweck. Sie sind nicht Teil eines „Ich-Projektes“ – einer Mission der Selbstfindung und Selbstoptimierung. Sie sind keine Side-Hustles, sie […]