Kolumne: Mit dem Anspruch wächst die Angst

19. Januar 2017 von in

Es gibt ein seltsames Phänomen, das man bei Menschen beobachten kann, wenn ihr Besitz wächst. Die Menschen, die wenig haben, haben auch keine ausgeprägte Angst, etwas zu verlieren, das klingt logisch. Hat man etwas mehr, überwiegt zunächst einmal die Freude darüber, man ist euphorisch und weiß jede Kleinigkeit daran zu schätzen. Wächst der Besitz allerdings weiterhin, dreht sich alles plötzlich um, und auf die Euphorie folgt keine Zufriedenheit, sondern plötzlich die Angst, den Status Quo wieder zu verlieren. Ein seltsames Unwohlsein, das mit dem Positiven einhergeht und sich heimtückisch einnistet.

Dieses Phänomen, was ich bis dato eigentlich als fern von mir und auch relativ unsympathisch abstempelte, packte mich letztes Jahr ganz unerwartet und bohrte sich in meinen Bauch. Durch einen neuen Job hatte ich ganz plötzlich weitaus mehr Geld zur Verfügung als bisher. Während ich davor jeden Monat stolz und glücklich mit meinem eigens erwirtschafteten Geld war, wenn ich auf mein Konto guckte, mischte sich plötzlich eine neue Angst zu diesem Gefühl: Was, wenn dieser neue Job wieder wegfällt? Was, wenn ich plötzlich wieder weniger habe? Was, wenn ich herunterfalle?

Anstatt mich zu freuen, plötzlich mehr zu haben, war ich konsequent gestresster und schlechter gelaunt. Sobald ich an den neuen Zustand dachte, mischte sich auch die Angst vor dem Fallen dazu, und das, was ich davor hatte, erschien mir plötzlich in einem ganz anderen Licht. Nicht genug – doch für was überhaupt? Nicht genug für meine Ansprüche? Nicht genug fürs Überleben? Nicht genug fürs Ego?

Angst hat oft auch etwas antreibendes an sich, und so entwickelte sich aus diesem neuen Gefühl auch der Ehrgeiz, eben noch mehr zu arbeiten, damit ein Jobverlust kein so großes Fallen auslösen würde. Es kam ein weiterer Job dazu, doch die Angst und auch der Anspruch blieben gleich. Tatsächlich ist es gerade völlig irrelevant für dieses neue Gefühl, wie viel Geld denn nun am Ende des Monats auf dem Konto landet – die Verlustangst ist da, wo sie früher nicht existierte.

Das Phänomen der Verlustangst taucht allerdings nicht nur in materieller Hinsicht auf. Je glücklicher und vollkommener sich das Leben anfühlt, desto schwieriger scheint es manchmal zu werden, sich aus vollem Herzen zu entspannen und sich einfach nur daran zu freuen. Lernt man jemanden kennen, bedeutet jedes kleine Eingeständnis einen Hüpfer im Herzen. Aber auch hier wird die Euphorie des Anfangs mit der Zeit von einer neuen Angst abgelöst, die mit jedem neuen Schritt, mit jedem Gedanken an die Zukunft und mit jedem glücklichen Moment ein bisschen mehr die Finger in einen krallt.

Die schöne neue Handtasche, die ziemlich teuer war, das neue Handy, selbst das Dach über dem Kopf oder der Lebensstatus in einem der sichersten Wohlstandsländer der Welt – sie alle kann die Verlustangst begleiten, wenn man sie nicht bewusst abschüttelt. Und sie daran hindert, sich an allem Schönen festzukrallen.

Von Zeit zu Zeit muss man sich daher einen Schubs geben und neuen Mut fassen. Die Verlustangst an den Fingern packen und wegschieben, denn sie ist Meister darin, sonst alles zu zerkratzen. Nichts ist ein Dauerzustand sagte eine gute Freundin einmal bei einem Isarspaziergang, und dieser Gedanke nimmt der heimtückischen Verlustangst plötzlich ganz viel Wind aus den Segeln. Denn egal, wie hoch man versucht zu klettern, jeden Tag kann irgendetwas passieren, womit man überhaupt nicht rechnet. Jobs können vorbei sein, Ansprüche können sich ändern, Gefühle können wachsen oder verschwinden.

Wichtig ist, den Blick für das Wesentliche nicht zu verlieren: Für einen selbst und für das, was wirklich zählt. Und verdammt nochmal zu genießen, was man hat – denn jedes Stückchen Verlustangst bedeutet, dass etwas Wunderbares da ist, und zwar genau jetzt.

 

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