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Kolumne: Liebe Cancel Culture, ich will meine Komplimente zurück!
Mit 13 Jahren wollte ich aussehen wie Rihanna. Was dazu führte, dass ich mir jeden Tag die Haare glättete. Meine Locken fand ich ziemlich doof. Beyoncé trug sie nicht, Alicia Keys trug sie nicht, warum ich? Nur an den Tagen, an denen ich verschlief, trödelte oder aus anderen Gründen den Weg zum Glätteisen nicht fand, musste ich meine Locken der Welt präsentieren. Als Dank überhäufte sie mich dafür nur so mit Komplimenten. „Coole Frise“ von meinem Sitznachbarn, „Schöne Locken“ von meinem Schwarm und „Was für tolle Haare“, hörte ich von Leuten, die an mir vorbei gingen.
Heute trage ich meine Locken mit Stolz, bekomme aber für meine natürlichen Haare kaum bis keine Rückmeldungen mehr. Das liegt nicht daran, dass sich alle an sie gewöhnt haben. Die Cancel Culture hat es ihnen ausgetrieben.
Unter Cancel Culture oder Call Out Culture versteht man das öffentliche Boykottieren oder zur Rede stellen einer Person oder Organisation, nach einer fragwürdigen – meist beleidigenden oder diskriminierenden – Äußerung. Da das oft in den sozialen Medien stattfindet, kommt es schnell zu einem Shitstorm. Daher rührt nun die Angst. Angst davor, etwas Falsches zu sagen und daraufhin mit den Konsequenzen leben zu müssen. Durch die Feminismus-, LQBTQ+- und BLM-Bewegung haben wir ein höheres Bewusstsein für marginalisierte Gruppen. Ich möchte allerdings behaupten, dass sich viele nicht immer sicher sind, wo Sexismus, Rassismus oder andere Formen der Diskriminierung anfangen– besonders, wenn es um Sprache geht. Diese Ungewissheit führt zu Verunsicherung. Ich kenne das Problem nur zu gut.
Die Gedanken sind frei
Neulich habe ich eine Bekannte nach längerer Zeit wiedergetroffen. Mein erster Gedanke war: „Wow, sie hat total abgenommen. Sie sieht toll aus.“ Im gleichen Moment habe ich mich dafür geschämt. Selbst in meinem eigenen Kopf klang es wie eine Beleidigung an ihr schwereres Sie. Als hätten ein paar Pfunde weniger aus einem hässlichen Entlein einen Schwan geschaffen. Natürlich hatte meine innere Stimme das so nicht gemeint und ich wusste auch, dass ich meinen Bemerkung nicht laut aussprechen sollte, also sage ich einfach nur: „Hallo!“. Weil wir nicht wissen, welche Begriffe legitim sind, sagen wir lieber gar nichts mehr. Ob Haare oder Figur, das Ergebnis bleibt gleich: Wo einst ein Kompliment war, ist nun Stille.
Grundsätzlich finde ich die Call Out Culture wichtig. Ich bin der Meinung, dass es notwendig ist Fehler aufzuzeigen, wenn andere darunter leiden. Erst dann können wir unser Verhalten ändern. Aktuell finde ich aber schießt sie über das Ziel hinaus. Anstatt einen Diskurs anzuregen oder dem Menschen die Möglichkeit zu geben seine Aussage zu hinterfragen, wirkt sie wie reine Bestrafung. Dadurch lernen wir jedoch nichts und eines bleibt auf der Strecke: die Komplimente.
Doch sie waren wichtig für mich. Denn in einer weißen Mehrheitsgesellschaft falle ich nun mal durch meine Haare auf. Teenager kann das schnell verunsichern. Jetzt würde ich natürlich gerne erzählen, dass ich mich selbst empowert, gebildet und von alleine meine Haare lieben gelernt habe. Stimmt aber nicht. Auch wenn ich es nicht zugeben möchte: die Bestätigung der anderen hat mir Selbstbewusstsein geben. Ohne die positive Rückmeldung wäre ich mir meiner Locken wohl immer noch unsicher. Klar ist auch, dass ich nicht hören möchte, wie „exotisch“ meine Haare sind. Der Vergleich mit einer Löwenmähne ist daneben und die Frage „Darf ich mal anfassen?“ übergriffig. Aber über ein nettes Kompliment freue ich mich natürlich.
Erst denken, dann reden
Hier liegt der springende Punkt. Keiner ist perfekt und jeder macht Fehler. Somit landen wir wahrscheinlich alle einmal in der Situation auf diese hingewiesen zu werden. Die Unterscheidung ist von Fall zu Fall anders. Während die Cancel Culture für das Ausüben von Gewalt und das Aussprechen des N-Wortes kein Pardon geben darf, muss sie in Momenten, in denen das Gegenüber sich seines unrechten Verhaltens nicht bewusst ist, mehr Raum für ein Gespräch bieten. Es reicht nicht Menschen an den Pranger zu stellen. Die Gradwanderung ist fein, aber der Weg ist es wert. Gleichzeitig dürfen sich die Fehlerbegehenden nicht auf dem Nichtssagen ausruhen. Lasst uns den nächsten Schritt wagen und nach Alternativen suchen. Anders gesagt: weiterdenken. Wenn es rassistisch ist meine Locken „exotisch“ zu nennen, wäre ein einfaches „schön“ bereits eine Verbesserung. Anstatt jemanden darauf hinzuweisen, dass er nun dünner ist, könnten wir der Person sagen, was wir wirklich besser an ihr finden. Es sind gewiss nicht die Kilos. Vielleicht wirkt sie nun glücklicher, vitaler oder ausgeglichener? Diese Adjektive können wir bedenkenlos mitteilen. Sprache hat Macht, deswegen müssen wir unsere ständig hinterfragen. Doch Schweigen kann nicht die Lösung sein. Verdammt, ich will die Komplimente zurück!
2 Antworten zu “Kolumne: Liebe Cancel Culture, ich will meine Komplimente zurück!”
[…] Stereotype haben jahrelangen Rassismus befeuert – und viele Menschen verletzt. Aber was tun? Die Filme alle verbrennen? Nein! Aber darauf aufmerksam machen, dass das, was in den Zeichentrickfilmen gezeigt wird, politisch wie […]
Oh wie Recht du hast! Du hast mir mit dem Artikel echt aus der Seele gesprochen. Ich habe mich insofern wieder gefunden, weil ich auch Turbo-Locken habe, aber in meiner Kindheit/Jugend arg dafür gemobbt wurde, sodass ich sie bis heute kaum noch offen trage, wenn dann tatsächlich nur geglättet. In diesem Jahr habe ich mehrere Ansätze gebraucht, um sie im Urlaub mal offen zu tragen. Zum Glück kamen nur Komplimente, aber der Schmerz von früher sitzt tief!