Kolumne: Brauchen wir immer neue Ziele?
Zum Jahresanfang war es wieder überall spürbar. Zum ersten Mal nach drei Jahren startete ein Jahr ohne Lockdown, ohne Corona-Warnmeldungen, ohne das allumfassende Gefühl, gerade eh keine größeren Pläne machen zu können. Und mit der wiedergewonnenen Freiheit und einem frischen Jahr vor uns war er plötzlich auch wieder zurück: der Druck, das Leben in die Hand zu nehmen, große Pläne zu machen, Ziele zu setzen und das Beste aus der eigenen Zeit, dem eigenen Leben zu machen. Der Druck, dem ich immer wieder erliege, der mich schon mein Leben lang einerseits antreibt, aber andererseits auch unglücklich macht. Und der gerade am Jahresanfang ganz besonders allgegenwärtig auf uns zugekrochen kommt.
Um mich herum rumorte es, kaum war die stille und besinnliche Zeit vorbei, und gefühlt machten plötzlich alle, die ich kenne, neue Pläne. Freunde zogen mit PartnerInnen zusammen, in neue Wohnungen oder gar aufs Land, andere starteten neue Jobs an oder feilten an Zielen und Projekten, die dieses Jahr erreicht werden sollten. Und wer weder das eine, noch das andere in Angriff nahm, hatte wenigstens schon mindestens eine spektakuläre Reise für das Jahr vorzuweisen. Egal, mit wem ich in den letzten Wochen sprach: Der Blick war bei den meisten nicht auf den Moment, sondern schnurstracks nach vorne gerichtet, in spätere Phasen des Jahres, wo bestimmte Dinge geschehen werden, bestimmte Ziele erreicht werden sollten, bestimmte Urlaube warteten. Und auch ich wurde unruhig und es fiel mir plötzlich schwerer als sonst, einfach im Hier und Jetzt zu sein.
Es mag am ungemütlichen Jahresanfang liegen, dass es uns genau dann besonders schwerfällt, im Moment zu leben.
Die kleinen Dinge wahrzunehmen, uns Tag für Tag am Dasein zu erfreuen, und eben nicht an die Zukunft zu denken. Gerade mich packt dieser Drang, das Leben zu planen und neue Ziele ins Auge zu fassen, ganz besonders stark im kalten Januar, wenn das Jahr ganz leer vor mir liegt und es sich schon fast beängstigend anfühlt, keine Pläne zu haben. Zum Jahresanfang vom Planungsdruck eingenommen zu werden, ist also noch relativ verständlich. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto mehr habe ich das Gefühl, dass dieser Planungsdruck immer größere Ausmaße annimmt, je älter – oder erwachsener und damit selbstbestimmter – ich werde. Dass er mich manchmal überkommt, aus dem friedlichen Moment reißt und ganz schön unzufrieden macht. Und dass dieser Druck gerade nach den fomo-freieren letzten Corona-Jahren ganz geballt zurückkommt.
Als ich also neulich mit meinen Eltern über den zu Jahresbeginn so omnipräsenten Planungsdruck sprach und darüber, dass ich in Gedanken so oft bei nächsten Plänen und Zielen bin statt in dem Moment, den ich eigentlich genießen wollte, las mir mein Vater ein Gedicht vor: „Glück“ von Hermann Hesse.
Bist du nicht reif zum Glücklichsein,
Und wäre alles Liebste dein.
Und Ziele hast und rastlos bist,
Weißt du noch nicht, was Friede ist.
Nicht Ziel mehr noch Begehren kennst,
Das Glück nicht mehr mit Namen nennst,
Dann reicht dir des Geschehens Flut
Nicht mehr ans Herz – und deine Seele ruht.
Eine Seele, die ruht – ein ziemlich schönes Bild, wie ich finde. Und noch dazu eine innere Ruhe, die nur davon kommen soll, einfach mal keine Pläne zu machen und im Moment zu leben. Klingt nicht nur schön, sondern sogar einfach. Eben nichts dafür erreichen zu müssen, um zur Ruhe zu kommen, sondern nur die Gegenwart anzunehmen.
Der Antrieb, der hinter dem ständigen Planungsdruck liegt, ist schließlich der: Wir glauben, zur Ruhe zu kommen und glücklich zu sein, wenn das nächste Ziel erreicht ist. Und dann nur noch das nächste. Und noch eins, und noch ein nächstes.
Denn die Phasen, in denen mal einfach alles ok und gut ist, sind immer nur temporär – dagegen können wir gar nichts tun. Ist einfach mal alles gut, ergibt sich irgendwann eben wieder irgendein Problem, das gelöst werden muss. Doch selbst wenn nichts dergleichen passiert, stellt sich bei mir irgendwann eine innere Unruhe ein. Die Unruhe, die mir einflüstert: nicht stagnieren, neue Ziele setzen, jetzt wird das nächste angepackt.
Ein Gefühl, das mich aus der Ruhe des Moments reißt. Genau diese Unruhe ist es aber wiederum auch, die mich schon mein Leben lang antreibt. Die mich zu Dingen führt, die ich mir gar nicht zugetraut hätte. Die Energien in mir freisetzt, bis sich bestimmte Wünsche erfüllt haben. Und der ich vieles in meinem Leben verdanke, worüber ich gerade glücklich bin. Das ist die Crux mit dem Planungsdruck: So ganz darauf verzichten, dass sich in meinem Kopf immer wieder neue Ziele und Wünsche formen, will ich natürlich auch nicht. Doch davon eingenommen werden, gar nichts mehr vor Augen haben als das nächste Ziel, und die Gegenwart gar nicht mehr wahrnehmen – so soll es eben auch nicht sein.
Zum Jahresbeginn wurde ich erstmal ein Stück weit überrollt.
Vom neuen Jahr, das da vor uns lag. Vom Jahresanfang ohne die beklemmende, aber auch ein Stück weit beruhigende Corona-Ausnahmesituation, die uns die Möglichkeit gab, ein bisschen zu verschnaufen und eben nicht alles in der Hand zu haben. Und von einem neuen Jahr in meinem Alter über 30, in dem man nun wirklich so ziemlich alles im eigenen Leben in der Hand hat, dafür verantwortlich ist, es aktiv zu lenken, zu gestalten oder sich auch aktiv dafür zu entscheiden, die Pläne und nächsten Zielsetzungen eben bleibenzulassen. Und in dem man sich davon manchmal ganz schön überfordert fühlt.
Mittlerweile sind die ersten beiden Monate des Jahres vergangen, und die Welt sieht schon wieder anders aus. Ich habe ein paar Pläne gemacht, die mich vorfreudig machen und dem Jahr ein bisschen Form geben, habe aber auch viel ungeplante Zeit vor mir, die mich überraschen kann. Und während ich also in den letzten Wochen ein paar Dinge plante, mir dabei aber auch Mühe gab, jeden Tag im Jetzt ganz besonders schön zu gestalten, ließ der allgemeine Druck zu Beginn eines Jahres immer weiter nach. Mittlerweile steht der März vor der Tür, wir sind langsam im Jahr angekommen, und alles geht so langsam wieder seinen gewohnten Gang. Der Alltag ist da, der Neujahrs-Neuanfangs-Druck schmilzt dahin, und das Gefühl kommt wieder zurück, nicht alles optimieren zu müssen.
Und ich merke: Genau jetzt ist doch eigentlich die beste Gelegenheit, wieder mehr im Moment zu leben und das zu genießen, was gerade passiert.
In den nächsten Jahren möchte ich mich zum Jahresanfang nicht mehr überrollen lassen. Ich liebe Pläne, ich liebe neue Ziele. Aber sie müssen nicht im Januar entstehen und auch nicht immer bis zum Jahresende erreicht werden. Wünsche, Pläne und Ziele dürfen uns antreiben, sie dürfen Energien freisetzen. Das eigentliche Glück kann aber weder in der Zukunft, noch im nächsten Ziel liegen. Sondern darin, im eigenen Inneren zur Ruhe zu kommen, wie auch Hesse es schon erkannte. Und das geht tatsächlich nicht in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit, sondern nur im Hier und Jetzt.
4 Antworten zu “Kolumne: Brauchen wir immer neue Ziele?”
[…] das eigene Leben nun wieder in allen möglichen Bereichen planen und auskosten zu müssen – hier schrieb ich diese Woche mehr dazu. Zwischen Corona in meinen eigentlich so schön verplanten […]
Hallo Milena, es ist die Balance aus Zielen für die Zukunft und in der Gegenwart zu bleiben und einfach zu sein, die schwierig zu halten ist. Das hast du schön geschrieben und das Gedicht finde ich sehr passend. Auf das Sein, aber auch das Träumen und Erreichen!
Danke für deine Worte <3
[…] Jahresanfang schrieb ich diesen Text über die Frage „brauchen wir immer neue Ziele“? Zu Beginn des neuen Jahres, noch dazu […]