Kolumne: Ich schäme mich, weil ich keine Bücher lese

15. März 2023 von in

Dieser Text ist zuerst am 10. Februar 2021 erschienen.

Ich muss euch etwas beichten. Es handelt sich um das Gegenteil von einem Guilty Pleasure – um einen Guilty Bummer, sozusagen. Etwas, das ich ungerne tue – aber bei dem ich nur sehr ungerne zugebe, dass es so ist. Denn es ist ein bisschen peinlich: Ich lese ziemlich selten Bücher. Uff, jetzt ist es raus.

Neben anderen Guilty Bummers – wie Sport machen oder etwas zu kochen, das länger als zehn Minuten dauert –, ist dieser mein allergrößter. Das liegt daran, dass mein Umfeld ziemlich belesen ist. Meine Freund*innen besprechen regelmäßig das neueste gesellschaftlich relevante Stück Literatur, schenken mir Bücher zum Geburtstag und fragen mich nach Lesetipps.

Denn obwohl mich selten jemand mit einem Buch in der Hand gesichtet hat, werde ich immer automatisch für eine belesene Person gehalten – schließlich hab ich ja studiert, kenne mich gut mit gesellschaftlichen Diskursen aus und kann bei fast allen aktuellen Themen mitreden.

Klar, dass ich jedes Jahr mindestens 50 Wälzer wegschmökern muss! Die Wahrheit könnte jedoch nicht weiter davon entfernt sein: Letztes Jahr habe ich mit Ach und Krach zwei Bücher fertig gelesen.

Trotzdem würde ich behaupten, dass ich ziemlich viel weiß. Es stammt eben nur ein kleiner Bruchteil dieses Wissens aus Büchern. Sogar im Studium habe ich nur auf Bücher zurückgegriffen, wenn mir diverse Internet-Tools nicht mehr die Quellen liefern konnten, die ich gebraucht habe. Ich war während Bachelor und Master nur ein einziges Mal in einer Bibliothek – weil ich dort einen Computer benutzen musste. Ich lese liebend gerne Magazine, Online-Artikel, Thinkpieces und Tweets – aber ein Buch in die Hand zu nehmen erfordert meist einen ziemlichen Kraftaufwand, zu dem ich mich oft nur mit Druck von außen überwinden kann. Das liegt nicht daran, dass ich Bücher nicht mag – ich finde sie toll und bin neidisch auf alle, die pro Monat fünf davon lesen können. Ich weiß nicht, wieso es mir so schwer fällt: Vielleicht ist meine Konzentrationspanne inzwischen von 20 Jahren Internet frittiert, vielleicht sind die Bücher zu langweilig, mit denen ich es versuche. Wahrscheinlich sind wie immer meine Eltern Schuld. Die lesen nämlich auch keine Bücher.

Aber ganz egal, woran es liegt: Ich schäme mich. Ich komme mir dumm dabei vor und ich fühle mich wie eine Hochstaplerin, wenn meine Freund*innen mir mal wieder ein Buch empfehlen und ich nicht sofort sage „vergiss es, ich les’ das sowieso nicht.“

Aber wieso eigentlich? Ich weiß eigentlich ganz genau, dass es mich nicht zu einer weniger wertvollen oder intelligenten Person macht, dass ich nicht so gerne Bücher lese. Die Antwort lautet vermutlich: Klassismus.

Es gibt bestimmte Freizeitaktivitäten, die gelten als wertvoller als andere. Jeden Abend allein ein Glas Rotwein trinken gilt als classy, jeden Abend allein ein Dosenbier trinken eher als alarmierend. In Bali am Strand legen? Cool. In Malle am Strand liegen? Peinlich. Ins Yogastudio gehen wird anders wahrgenommen als auf dem Bolzplatz Fußball zu spielen. Und Bücher lesen ist in der Rangliste höher als beispielsweise Fernsehen schauen. Das liegt daran, dass wir bestimmte Aktivitäten mit bestimmten gesellschaftlichen Schichten assoziieren. In dieser inneren Rangliste gilt das eine als erstrebenswert, das andere als abstoßend. Und ganz am Boden dieser Logik, sozusagen als Fundament, liegt ein Hass gegen Arme – auch Klassismus genannt.

 

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Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft. Anders als seine Cousins Rassismus, Sexismus oder Homophobie wird Klassismus selten öffentlich angeprangert. Das ist fatal. Es ist der Grund, wieso ein Kevin bei gleicher Leistung schlechtere Noten bekommt als ein Jakob, wieso uns als Kindern beigebracht wird, Obdachlosen kein Geld zu geben und RTL nach wie vor erfolgreich Reality-TV produziert, das auf bloßen Voyeurismus der „Dummen und Armen“ aufbaut. Und es ist auch der Grund dafür, dass ich mich schäme, selten Bücher zu lesen. Weil ich mich deswegen weniger wertvoll fühle. Das ist ein Gefühl, dass allen Menschen bekannt ist, die in ihrem Leben eine Art sozialen Aufstieg vollzogen haben und die Angst mit sich herumtragen, dass sie enttarnt werden könnten, weil sie „eigentlich gar nicht hier hin gehören“.

Dabei sollte soziale Herkunft eigentlich nicht darüber entscheiden, als wie wertvoll man sich selbst betrachtet. Das tut sie aber – und wir reproduzieren dieses Denken. Zum Beispiel, wenn wir davon ausgehen, dass Menschen, die studiert haben (und auch noch im Journalismus arbeiten!), auch automatisch belesen sein müssen – schließlich kann nur klug sein, wer auch die Fähigkeit und die Muse besitzt, regelmäßig Bücher zu lesen. Kleine Denkmuster wie dieses sind also eine gute Gelegenheit, uns mal selbst an unsere ja eigentlich so reflektierten Nasen zu fassen.

Denn wenn man genau hinschaut, dann strotzen auch eigene Denkweisen oft von solchen kleinen Abwertungen: Wenn man billige Ikearegale belächelt, All-Inclusive-Urlaube stillos findet oder sich über Wandtattoos und Trash-TV lustig macht.

Und weil wir mit all diesen Dingen auf keinen Fall assoziiert werden wollen, tun wir gerne mal so, als wären wir motivierter, sportlicher, disziplinierter oder belesener, als wir es sind. Ein bisschen mehr Ehrlichkeit in Bezug auf die eigene Realität kann also vielleicht schon kleine Wunder wirken. Auf dass wir irgendwann keine Angst mehr haben müssen, enttarnt zu werden – weil es dann gar nichts Schlimmes mehr ist, nicht die perfekte Bildungsbürgerin zu sein.

Bildcredit: Unsplash

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9 Antworten zu “Kolumne: Ich schäme mich, weil ich keine Bücher lese”

  1. Danke für diesen Artikel! Ja, da sagst du was. Auch ich tue mich schwer, Bücher zu lesen. Und auch ich schäme mich dafür. Dabei liebe ich Bücher … eigentlich. Als Kind war ich eine absolut Leseratte. Aber da hatte ich a) auch keinen eigenen Fernseher und b) weder Computer noch Internet noch Handy.
    Bei mir merke ich definitiv, dass meine Aufmerksamkeitsspanne extrem abgenommen hat. Auch zeitlich finde ich es schwer, die richtigen Auszeiten zum Lesen zu finden. Ich muss in der richtigen Stimmung sein, nicht zu aufgekratzt, nicht zu müde, offen für die Inhalte usw. Abends schaue ich meist lieber mit meinem Mann Serien. Wir lieben Serien beide und können es gemeinsam machen. Mein Mann ist nicht so der Bücher-Leser, deshalb kommt ein gemeinsames Jeder-für-sich-Lesen auch selten in Frage. Manchmal lesen wir uns auch gegenseitig vor, aber es interessiert den anderen eben auch nicht immer.

    Klassismus kommt bei mir besonders ins Spiel, wenn es um Fachliteratur geht. Die lese ich nämlich so gut wie überhaupt nicht. Besitze ich auch kaum. Obwohl es in meinem Bereich (Theaterpädagogik) viel Fachliteratur gibt. Es interessiert mich einfach nicht. Die nötigsten Infos sammle ich mir im Netz zusammen und das reicht mir. Die Scham darüber ist aber definitiv vorhanden. Meine Kollegin sagte letztens im Zoom-Meeting zu mir, dass sie gerade eine Art Forschungsphase hat, in der sie ganz viel Fachliteratur liest. Sie findet das total toll. Zack, hab ich mich wieder geschämt. Ich habe auch nicht studiert, das kommt dann auch noch dazu als Scham-Auslöser. Auch wenn ich nie studieren wollte, es auch nicht will und froh bin, dass mich das nicht tangiert. Aber dennoch wirkt es oft komisch auf Menschen, wenn man nichts studiert hat. Dafür habe ich eine Ausbildung und eine Fortbildung abgeschlossen. Ich erinnere mich an eine Situation, da war ich 20 Jahre alt und gerade mitten in meiner schulischen Ausbildung zur Kaufmännischen Assistentin. Über’s Intenert hatte ich einen guten Freund kennengelernt, er studierte Politikwissenschaften und Geschichte oder etwas ähnlich „Hochtrabendes“. Er lud mich zu einem Treffen mit Kommiliton:innen in ein Café ein, ich kannte außer ihm niemanden. Die Student:innen waren alle 2-3 Jahre älter als ich und anfänglich total nett und offen. Ich kam mit mehreren von ihnen ins Gespräch, doch immer wenn wir an dem Punkt ankamen, an dem mein Gegenüber mich fragte, was ich denn studiere und ich antwortete, dass ich nicht studiere, sondern eine Ausbildung mache, verebbte das Gespräch so langsam. An dem Abend konnte ich mit niemandem intensiver sprechen, weil sie ab dem Punkt immer uninteressiert waren. Das hat mich ziemlich verletzt.

    So, und zum Thema Bücher: Da ich eigentlich gern lese, habe ich mir für dieses Jahr die Challenge gesetzt, jeden Monat ein Buch zu lesen. Es darf auch ganz dünn sein, ein Reclam-Heftchen reicht schon. Hauptsache, ich ziehe es irgendwie durch. Denn ich will das Lesen wieder zu einem Teil meines Lebens machen. Das gilt natürlich nicht für Fachliteratur … die ignoriere ich weiterhin.:D

    Viele Grüße,
    Sarah

  2. Nein, es ist überhaupt nichts schlimm daran, sich selbst nicht zum Bildingsbürgertum zählen zu wollen!
    Stutzig macht es allerdings, wenn Menschen nun für sich implizit in Anspruch nehmen, diskriminiert zu werden, weil sie keine Bücher lesen. Ich selbst bin als Schwarze Frau in Deutschland aufgewachsen, mein Vater war Taxifahrer. Bilderbuchmäßige Mehrfachdiskriminierung aufgrund von Merkmalen, die ich nicht ändern konnte. Klassizismus ist ein massives Problem, ja. Und ebenfalls die daraus resultierende Diskriminierung. Wenn Frau sich allerdings dazu entschließt, keine Bücher zu lesen und/oder nicht zu studieren, ist die daraus resultierende Scham kein Zeichen der Diskriminierung. Scham ist vielmehr ein Zeichen zu wissen, was gesellschaftlich anerkannt ist, und in diesem Fall liegt der Grund für die Anerkennung auf handfesten Fakten, die belegen, dass es der Persönlichkeitsentwicklung zuträglicher ist, Bücher zu lesen als im Handy zu scrollen. Wenn Frau für sich die Entscheidung trifft, trotzdem lieber zum Handy zu greifen, ist das doch total in Ordnung! ihr muss nur klar sein,dass ihr Anerkennung fehlen wird. und fehlende Anerkennung ist nicht gleichbedeutend mit Diskriminierung.

    • Liebe Tina, da hast du vollkommen Recht und das wollte ich mit dem Artikel auch gar nicht sagen. Nur, weil ich nicht so viel lese, werde ich nicht diskriminiert. Aber dass Lesen als eine wertvollere Beschäftigung als beispielsweise Fernsehen gilt, ist Ausdruck einer Diskriminierungsform – es ist quasi ein kleiner Zweig an diesem Klassismus-Baum. Das heißt: Es ist Ausdruck einer Diskriminierungsform, heißt aber nicht, dass ich deswegen gleich eine diskriminierte Person bin.

      Dass Lesen der Persönlichkeitsentwicklung zuträglicher ist als im Handy zu scrollen, würde ich allerdings anzweifeln: Schließlich kann ich auch jeden Tag stundenlang Schmonzetten lesen, die mich nicht unbedingt klüger machen – und gleichzeitig am Handy total wertvolles neues Wissen aufsaugen. Diese Aufteilung finde ich (zumindest heutzutage) nicht mehr so zeitgemäß. Und man könnte auch noch einen Schritt weiter gehen und hinterfragen, wieso eine Freizeitaktivität einen überhaupt klüger machen muss – es geht ja eigentlich darum, eine gute Zeit zu haben.

    • Liebe Tina, danke danke danke, dass du das niederschreibst, was ich mir in letzter Zeit so oft gedacht habe, wenn das wichtige (!) Thema Klassismus in bestimmten Bubbles rauf und runter gespult wird, wenn es ums Fernsehen, Reality-TV’s schauen usw. geht. Das bildungsbürgerliche Von-oben-herab auf andere schauen und ein Verhalten, welches sich über (vermeintlich) weniger Belesene, Gebildete, Kultivierte stellt, ist absolut kritikwürdig und klassistisch, definitiv. Den feinen Unterschied macht dabei dennoch, wer hier wie klassistisch behandelt wird bzw. wer das Recht darauf hat, auf Diskriminierung zu pochen. Du hast ja schon geschrieben, dass es gar nicht so gemeint war, liebe Jowa, nur finde ich, ist das ganze Klassismusthema auf Blogs, Instagram-Bubbles usw. gerade schwieriges Fahrwasser und arbeitet sehr viel Raum einnehmend stark an der Oberfläche – daher mein Kommentar.
      PS: Um meine eigenen Denkweisen und die Welt, in der ich sozialisiert wurde, zu dekonstruieren, hat mir Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ geholfen, sehr empfehlenswert, wenn auch selbst absolut bildungsbürgerlich geschrieben.

  3. Ah, alles klar, danke für die Klarstellung!

    Zum Handy vs Buch: Klar, so schwarz-weiß ist das nicht. Wenn man allerdings in dieser Argumentationsstruktur bleibt, so ist die Fähigkeit, sich neues Wissen am Handy anzueignen aber doch auch Ausdruck von Klassizismzus, da sie eine gewisse Medienkompetenz voraussetzt.
    Ich bleibe bei meinem Standpunkt: Ich liiiieebe Bücher und bin nach aktueller Studienlage auch davon überzeugt, dass selbst „Trivialliteratur“ zur Persönlichkeitsentwicklung beiträgt. und dass niemand sich schämen sollte, keine Bücher zu lesen! Es gibt so viele andere sinnvolle Dinge, die man mit seiner Zeit anstellen kann. Und es gibt Zeit für Dinge ohne Sinn…

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