Kolumne: Von Herzensorten und der Heimat in uns selbst

19. März 2019 von in

Ilinca ist der Beweis dafür, dass Freundschaft keine zeitlichen und räumlichen Grenzen kennt. Wir beide, Amelie und Milena, lernten Ilinca erst virtuell in unserer frühesten Onlinezeit kennen, dann kreuzten sich unsere Wege immer wieder auch im echten Leben: In Edinburgh, wo nicht nur Amelies Schwester, sondern auch Ilinca zum Studieren lebte, oder über Jasmin, die Ilinca schon seit vielen Jahren kennt. Erst durch ihr Studium, jetzt durch ihren international angelegten Job verschlägt es Ilinca immer wieder an neue Orte in der Welt, von denen aus sie arbeitet und sich umwerfende Projekte wie The Pick-up Theorist ausdenkt. Für amazed schreibt sie von ihrer aktuellen Station New York aus über Themen, die ihr am Herzen liegen. Und beginnt heute damit, was Heimat eigentlich bedeuten soll.

Ab und zu verliebe ich mich im Traum in gesichtslose Fremde – emotionale Gespinste meines Unterbewusstseins, die mir im Tiefschlaf auf einem Silbertablett serviert werden. Wenn ich dann abrupt erwache, bin ich immer ein bisschen wehmütig – so, als würde ich jetzt etwas unheimlich Wichtiges verpassen. Dabei verarbeiten meine Träume – so mysteriös sie sich auch anfühlen – ja eigentlich nur das Material, das ich ihnen liefere. Verloren geht also überhaupt nichts. Die Wehmut leistet mir dann trotzdem noch ein paar Stunden lang Gesellschaft, bis der Traum gegen Nachmittag schließlich verblasst. Mit dem Thema Heimat und mir verhält es sich ganz ähnlich.

Ich bin in Deutschland aufgewachsen, und seit 2010 auch ganz offiziell deutsche Staatsbürgerin. Aber so richtig deutsch macht mich das trotzdem nicht. Im November 1994 sind meine Eltern mit zwei großen Koffern und ihrer dreijährigen Tochter im Gepäck mit dem Schlafzug quer durch Europa gefahren, um in Tübingen noch einmal ganz von vorne anzufangen.

Wenn mich jemand fragt, wo ich denn genau herkomme – und mit einem Namen wie Ilinca kommt das in New York nicht gerade selten vor – dann fühlt es sich nicht richtig an, es meinem Gegenüber einfach zu machen und Deutschland zu sagen. Aber Rumänien ist auch nur die halbe Wahrheit. Meistens sage ich dann: ursprünglich komme ich aus Rumänien, aber ich bin in Deutschland aufgewachsen.

Über die Jahre hinweg ist die ganze Situation noch ein bisschen komplizierter geworden. 2011 bin ich mit dem Abitur in der Tasche nach Schottland gezogen, um in Edinburgh zu studieren. Dort habe ich mich Hals über Kopf in die höflich-reservierte Art und den trockenen Humor der Briten verknallt und entschieden, erstmal zu bleiben. Nach einem Master in Oxford und einem Jahr in London hat es mich dann aber doch von meiner ehemaligen Lieblingsinsel auf ein deutlich wärmeres Stück Land verschlagen – für die Arbeit bin ich nach Singapur gezogen. Jetzt lebe ich gerade ein Jahr lang in New York, hoffnunglos verliebt in mein neues Zuhause.

Aber Zuhause, das ist nicht gleich Heimat.

Für mich bedeutet Heimat Geborgenheit und Melancholie in einem einzigen bittersüßen Paket. Heimat ist Balsam für die Seele, aber tut immer auch ein bisschen weh – ich komme an, und gleichzeitig lasse ich etwas zurück. Heimat fühlt sich für mich nach entgangenen Chancen an; das Gefühl, irgendwann auf der Strecke von Bukarest nach New York etwas wichtiges verpasst zu haben.

Als Kind war mir natürlich nicht bewusst, dass es mir eines Tages so gehen würde. Sonst hätte ich mich bestimmt weniger vehement gegen rumänische Grammatikübungen gewehrt. Aber selbst wenn mein Satzbau einwandfrei wäre und ich ohne zu googlen WhatsApp Romane an meine rumänische Familie entwerfen könnte – ich habe nicht die geringste Ahnung, was es eigentlich bedeutet, eine junge Rumänin in Bukarest zu sein. Ich schaffe es auch schon lange nicht mehr, mir vorzugaukeln, dass ich komplett akzentfrei Rumänisch spreche – da spielen meine Eltern nicht mehr mit – und meine rumänische Spotify Playlist ist vermutlich mindestens fünf Jahre hinterher. Meine Besuche – so oft wie möglich, aber trotzdem gefühlt viel zu selten – sind immer zu kurz und mein Herz ständig am Grübeln.

Das Gefühl, nicht so ganz reinzupassen, habe ich auch in Deutschland – aber anstatt Wehmut in mir hervorzurufen, bin ich eher stolz darauf, anders zu sein. Wir haben zuhause nie sonntags den Tatort verfolgt und auch wenn ich meinen Freunden zuliebe ein paar Mal mitgeschaut habe, könnte mir dieses urdeutsche Format nicht egaler sein. So sehr ich die deutsche Effizienz auch liebe, im Ausland gehe ich deutschen Touristen so gut es geht aus dem Weg und freue mich insgeheim, wenn man meinen Akzent im Englischen nicht gleich als deutsch einordnet. Ich bin stolz auf meinen “Migrationshintergrund” und doppelt und dreifach stolz, dass ich in der Schule die besten Deutschnoten hatte – das hat sich fast schon ein bisschen rebellisch angefühlt. Trotzdem weiß ich natürlich, dass ich eigentlich kulturell viel eher Deutsche bin als Rumänin. Aber das Herz spielt eben nicht immer mit.

Es ist nicht so, dass ich Heimat nicht auf einer Karte festlegen kann.

Heimat ist unser Familienhaus auf dem Land in Rumänien, das nicht mehr unser Haus ist, in dem ich als Kind glückliche Sommer verbracht habe und morgens in den Hühnerstall geklettert bin, um die frischgelegten Eier aus dem Stroh zu fischen. Die Wohnung meiner Großeltern in Bukarest. Weihnachtsbaum schmücken in Tübingen. Ein Kaninchenstall. Eine Taxifahrt. Ein letztes Mal aus dem Auto winken.

Aber eigentlich brauche ich keine Geokoordinaten – ich trage Heimat in meinem Körper mit mir herum. Jedes Herzrasen, jedes Glücksgefühl, jede Angst und jedes Tief erinnert mich daran, wer ich bin und wo ich herkomme. Mein Impfmahl am linken Oberarm und mein Muttermal unterm Kinn. Meine Nase, von meiner Uroma geerbt. Das alles begleitet mich, wohin ich auch gehe. Ich habe jetzt ab und zu Herzrasen in New York, und begutachte meine Nase kritisch im Profil in unserem Badezimmerspiegel im East Village – nur um mich im nächsten Atemzug daran zu erinnern, dass mein Großvater sie super stolz eine griechische Nase genannt hat. Mein Körper ist ein Resultat von allem, was mir in diesem Leben am meisten bedeutet und ich liebe ihn dafür. Manchmal bin ich grundlos traurig und meine Brust fühlt sich so schwer an, dass ich gar nicht richtig einatmen kann. Aber viel öfter fühlt sich mein Herz so voll und glücklich an, dass ich das Gefühl habe zu platzen. Beides ist ein Teil von mir.

Vielleicht wäre ich nicht ganz so gut darin, mein Leben regelmäßig komplett einzupacken und an anderer Stelle wieder auszupacken, wenn ich zum Thema Heimat keine so schwierige Beziehung hätte. Wenn meine Eltern mir die Sache mit dem Aufbruch vor mehr als zwanzig Jahren nicht vorgemacht hätten.

Ich bin gut darin, mir aus dem Nichts ein Zuhause zu basteln – ein kleines Nest, das sich von ganzem Herzen richtig anfühlt.

Ein Lieblingscafe. Eine Sportroutine. In einer Millionenstadt ab und zu denselben Fremden auf dem Weg zur Arbeit über den Weg zu laufen. Neue Bekanntschaften knüpfen, an jahrelangen Freundschaften arbeiten und gelegentlich das Glück haben, zu merken, wie sich eine Bekanntschaft schleichend in eine Freundschaft verwandelt hat. Ich fühle mich schnell überall zuhause. Ich glaube, das ist schon ein Talent.

Ab und zu treffe ich jemanden, dem ich das alles nicht erklären muss – jemanden, dem es ganz genauso geht. Auch, wenn man sonst nicht viel gemeinsam hat, so etwas verbindet. Zusammen passt man gleich ein bisschen besser nicht ins Schema.

Und wer weiß – vielleicht wird dieses ganze Heimatswirrwar auch für mich eines Tages nicht mehr ganz so verwirrend sein. Vielleicht werde ich mich in ein paar Jahren dafür entscheiden, ein Zuhause in eine Heimat zu verwandeln, weil es sich richtig anfühlt. Bis dahin klebe ich Bild für Bild meine Sammlung an schwarzweißen Familienfotos an die Wand, spüre ein klitzekleines Stechen im Herz und weiter geht’s.

Fotos: Ilinca & Unsplash

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10 Antworten zu “Kolumne: Von Herzensorten und der Heimat in uns selbst”

  1. Liebe Ilinca, meine Güte, was für ein wunderschöner, poetischer, ehrlicher und bewegender Text. Ich ziehe meinen imaginären Hut, sage danke und freue mich sehr auf mehr!
    Liebe Grüße, Katharina

  2. Liebe Ilinca, über Jasmin habe ich dich „kennen gelernt“ und in ihren Vlogs schon fast lieben gelernt. Verrückt sowas. Ich bewundere und beneide dich. Ich bin da viel der grössere Schisshase und verweile in meiner kleinen Stadt in der Schweiz.
    Danke das du so offen und schön schreibst. Hat mir meine Nachtwache auf der akuten Psychiatrie versüsst.
    Virtuelle Umarmung

    • Liebe Carmen, ich habe deinen Kommentar heute morgen kurz nach dem Aufstehen gelesen und das war wirklich der bestmoegliche Start in den Tag fuer mich. Von ganzem Herzen danke dafuer! Ich habe das grosse Glueck, dass mir um die Welt ziehen ziemlich leicht faellt (und dank meines Jobs vorallem auch leicht gemacht wurde – extrem wichtig!) – besonders mutig komme ich mir dabei also gar nicht vor! Ich bin mir ausserdem ziemlich sicher, dass du auch so einiges machst, was ich mir nie im Leben zutrauen wuerde. Virtuelle Umarmung zurueck!

  3. Hallo liebe Ilinca,

    dein Text hat bei mir tief etwas angesprochen, was ich selber nicht so gut in Worte fassen konnte. Vielen Dank dafür!
    Ich freue mich schon auf deine kommenden Texte und bin sehr gespannt welche Themen dich dann beschäftigen.

    • Liebe Amelie – das hat mich so unglaublich gefreut, vielen Dank fuer deinen Kommentar! Ich hab so einige Ideen fuer zukuenftige Kolumen, aber falls du Themenvorschlaege haben solltest – immer gerne her damit. X

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