Kolumne: Ent-täusche mich!
Foto: Kerstins Kopf
Ich sitze oft am Lagerfeuer dieser Tage. An solchen Feuern spricht man über andere Dinge als sonst, wisst ihr. Da springt mal ein Grashüpfer vor dir ins Feuer und plötzlich hast du eine Diskussion über suizidale Langfühlerschrecken an der Backe. Auch sonst eher die großen Themen: Liebe, Familie, Freundschaft, Sterne, Zeitdimensionen, Milchstraße, Sodomie, Sonnencreme. Mein absoluter Favorit bisher ist die Ehrlichkeitsdebatte. Ich sage mir nämlich nach, dass ich immer ehrlich bin. Das ist natürlich gelogen, weil es gar nicht geht. Aber man kann es als Maxime sehen und das tue ich.
In meiner Lagerfeuererfahrung spaltet dieser Gedanke die Menschheit. Andere tun das nämlich nicht so wie ich. Sie sagen, man muss manchmal lügen, um andere nicht zu verletzen, vor allem deine Freunde. Ich entgegne dann meist, dass ich mich eher verletzt fühle, wenn mich jemand anlügt, vor allem von meinen Freunden. Aber das interessiert diese Leute nicht. Ich sage dann auch, dass es viel nachhaltiger ist, jemandem kurzfristig wehzutun, als dein Leben lang mit einer Lüge herumzurennen, die eh irgendwann explodiert, nur um jemanden eine Zeit lang vor einer Wahrheit zu bewahren. Das interessiert aber auch niemanden. Dabei ist dieses Nichtsagen von Dingen doch Futter für zahllose Seriendramatik von Breaking Bad über Californication bis Orange is the new Black. Immer sagt irgendwer etwas nicht oder falsch– aus Angst oder Sorge – und dann baut sich die Spannung auf, bis sie zwei Staffeln später allen um die Ohren fliegt.
Jemand in meiner Familie hat 25 Jahre lang seiner Frau nicht erzählt, dass er Krebs hat. Um sie zu schützen. Was ist das für 1 life? Als ich das erfuhr, war ich total aus dem Häuschen, kam gleich mit der Moralkeule: Wie kann er nur… So etwas intimes mit deinen engsten Vertrauten… Das macht man doch nicht… Lügner, Feigling, blablabla. Mein Bruder saß neben mir und sagte einfach: Wieso? Würde er genauso machen. Warum jemandem wehtun, wenn man nicht muss. Damals war ich erstmal sprachlos, aber jetzt an diesem Lagerfeuer habe ich die richtigen Worte gefunden.
Ich sage euch warum. Weil wir sie brauchen, die Enttäuschung. Ent-täuschung. Da steckt so viel drin. Wir haben uns getäuscht und das ist okay. Jetzt kommt jemand und hebt das auf. Wir wollen nicht in einer Täuschung leben, oder? Wir wollen, dass uns besonders die Menschen, die uns nahe sind, sagen, was Sache ist. Dass sie uns ent-täuschen. Wir wollen echte Dinge, echte Menschen, echte Sätze, echte Gefühle. Und jeder Mensch strebt irgendwie nach Wahrheit. Nicht nur am Lagerfeuer. „A stitch in time saves nine“ – kennt ihr? Das gilt für Freundschaften, Beziehungen, Arbeitsverhältnisse und Umkleidekabinen. Wenn ein Kleid scheiße aussieht, ist es besser, das auch zu wissen. Man kann dann Worte wählen, diplomatische oder weniger diplomatische, je nachdem wie empfindlich die andere Person ist oder wie viel Zeit ihr gerade habt. Davon haben wir generell nicht so viel. Auch solche Gedanken kommen dir, wenn du den in den Nachthimmel schwebenden Funken des Feuers zuguckst. Ihnen nachgaffst, während sie versuchen, den Großen Wagen anzukokeln. Da lebe ich die kurze Zeit lieber so enttäuscht wie möglich. Man muss ja nicht immer bei jeder Kleinigkeit gleich ins Feuer springen.
8 Antworten zu “Kolumne: Ent-täusche mich!”
Chapeau! Bin auch sehr für Ehrlichkeit und versuche seit einer ganzen Weile nicht mehr zu lügen. Dennoch bin ich immer freundlich und diplomatisch. Es geht beides.:)
lg,
Sarah
Ich sehe das genau so wie du, auch wenn ich mir natürlich schon viele Gegenmeinungen anhören musste. Was mich immer viel mehr beschämt und verletzt, ist wenn Freunde oder Familie, generell Nahestehende, anfangen, auszupacken und mir Dinge erzählen, die ewig her sind und sie extrem gestört haben. Da schäme ich mich immer so sehr, weil ich die ganze Zeit dachte mein Verhalten würde gut ankommen und dann das. Es explodiert, wie du schon sagst. Daher wirklich lieber einmal kurz wehtun. Nicht nur wichtig, um nicht in einer Täuschung zu leben, sondern auch für das eigene Selbstbild. Man will schließlich ein ehrliches Feedback bekommen…
Ich mag eure Kolumnen, aber das habt ihr sicher schon gemerkt. ;)
xx Ana http://www.disasterdiary.de
guter Text. wichtiges Thema.
Tatsächlich habe ich mir das Wort ‚Enttäuschung‘ noch nie wörtlich vor Augen geführt. Es ist wichtig, dass man im Leben Menschen hat, die die Täuschungen im Leben aufheben (einen ent-täuschen) und einen klaren, wenn auch manchmal schmerzhaften, Blick auf sein/das Leben erst möglich machen.
Gegenüber anderen so ehrlich zu sein, fällt oftmals schwer. Somit ist es umso wichtiger, sich diesen Gedanken immer vor Augen zu führen!
Lügen langweilen mich.
Und ausserdem – wenn man den Konstruktivismus zu Rate ziehen möchte, gibt es weder DIE Wahrheit noch DIE Wirklichkeit. Jeder Mensch ist da in der Gestaltung individuell und vor allem eingefärbt (man nimmt nur Zeugenaussagen als Beispiel).
Spannenderweise werde ich gerade für die ehrlichsten Aussagen der Lüge bezichtigt.
Was für mich jedes Mal überraschend ist, da meine Wahrheiten, die ich da so von mir gebe, wirklich selten vorteilhaft sind, vor allem für mich nicht.
Aber wahrscheinlich sind die Menschen am ehesten die Lügen anderer gewohnt und das Beschönigen von Dingen/Situationen/eigener Lebensläufe.
Ich habe jedoch nichts zu verbergen, ich schäme mich für meine Taten in der Regel nicht, von daher würde mich lügen darüber langweilen, zumal sich mir der Sinn entzieht.
Ausserdem ist mir die Meinung/das Urteil anderer über mein Leben in der Regel ziemlich egal.
Bei anderen bin ich vorsichtiger mit solchen Dingen, aber ich wüsste nicht, warum ich jemand anderen anlügen sollte über das, was ich über etwas denke.
Leider verliert man damit auch hin und wieder Menschen, doch die, die bleiben, wissen das sehr zu schätzen und fragen mich gerade deshalb gerne um meine Meinung.
Wenn schon Freunde haben, dann wenigstens ehrliche. Der Rest ist Zeitverschwendung.
Lieber Gruss
Ava
Was für ein grandioser Post. Wirklich toll auf den Punkt gebracht und besonders freue ich mich gerade über die Entdeckung von „ent-täuschen“. Das sollte ich mir irgendwo aufschreiben.
Ich werde nämlich oft auch nicht verstanden, wenn ich mal wieder für die schmerzhafte, aber ehrliche Wahrheit plädiere.
Danke!
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