Kolumne: Die richtige Dosis Ehrlichkeit
Ich sitze mit einem sehr guten Freund auf meinem Sofa. Wir haben uns seit Monaten nicht gesehen, er ist endlich mal wieder zu Besuch aus Berlin und es fühlt sich wie immer an, als hätten wir uns erst gestern gesehen. Seiner neuen Freundin hat er selbst auf Nachfrage nichts von unserer turbulenten Vergangenheit erzählt. „Da lief nie was“, damit ist das Thema abgehakt, verstaut und er auf der entspannten Seite. „Hätte ich ihr alles erzählt, könnten wir jetzt nicht hier sitzen.“
Ich gehöre zu denen, die nichts verdrängen. Die alles auf den Tisch knallen, mag es noch so schockierend sein. Hauptsache ehrlich, Hauptsache keine Geheimnisse vor denen, die mir wichtig sind. Wenn ich mich mit jemandem treffe, mit dem es eine Vorgeschichte gab, erzähle ich dem, der mir jetzt wichtig ist, davon. Ehrlichkeit anstelle von Geheimniskrämerei, Misstrauen und Dramen, wenn es dann doch rauskommt. Die ehrlichen Geschichten sind dabei natürlich nicht immer schön zu hören, sie zu verschweigen oder zu lügen kommt für mich aber einfach nicht infrage. Ich kann nur ehrlich sein, wenn Vertrauen entstehen soll – ehrlich zu anderen, und ehrlich zu mir selbst.
Verdrängen war noch nie mein Ding, eine Angewohnheit, die sich für mich immer falsch anfühlte. Bis ich Menschen kennenlernte, die das Ausweichen, Verdrängen und Verschweigen bewusst als Lebenspraktiken benutzen, um sich um Unangenehmes herumzuwinden. Die Geschichten von früher verschweigen, um keine Eifersucht entstehen lassen. Die lieber nicht sagen, was sie denken, um Reibungen aus dem Weg zu gehen. Ich kenne sogar jemanden, der die Schule kurz vor dem Abi abgebrochen hat und sich jahrelang einredete, es schon noch nachholen zu können. Und dabei so unehrlich zu sich selbst war, dass er viele Jahre entspannt durchs Leben gehen konnte.
Doch irgendwann wird man schließlich immer eingeholt, von dieser Unehrlichkeit, egal ob man anderen oder sich selbst etwas vormacht. Lügen kommen raus, Vertrauen zerbricht oder man steht irgendwann vor der Wahrheit, die man nie sehen wollte, und die Zeit, alles wieder einzurenken, gibt es nicht mehr. Doch je mehr ich in den letzten Jahren mitbekam, wie andere mit Verdrängungen oder Lügen umgehen, desto mehr probierte ich das Ganze auch für mich aus. Und stellte fest, dass hundertprozentige Ehrlichkeit vielleicht doch nicht immer der richtige Weg ist.
Dinge zu verschweigen, wenn sie noch nicht passen oder ganz tatsächlich keine Relevanz mehr haben, kann tatsächlich manchmal die schmerzlosere Variante sein. Muss der Andere wirklich alle verflossenen Geschichten kennen, auch wenn sie keinerlei Rolle mehr spielen? Was ist wichtig zu erzählen, was nicht? Für mich wird etwas relevant, wenn Geschichten aus der Vergangenheit in die Gegenwart platzen. Aber auch hier frage ich mich oft: Bin ich zu ehrlich?
Der andere Punkt ist die Ehrlichkeit zu mir selbst. Jahrelang habe ich von all meinen Pflichten absolut nichts verdrängt und mir im Nachhinein unnötigen Stress gemacht. Viel zu viel unnötigen Stress. Ein bisschen Verdrängung kann ziemlich heilsam sein, denn was bringt es, rund um die Uhr über Deadlines, unbeantwortete Emails oder anstehende Termine nachzudenken, und sich damit die freie Entspannungszeit zu versauen? Wegschieben und Verdrängen wäre für mich früher nicht möglich gewesen, dadurch war ich im Nachhinein gesehen aber auch definitiv unglücklicher und unentspannter als heute. Jetzt, wo ich mehr zu tun habe als jemals zuvor, ist Verdrängung oft die einzige Möglichkeit, trotzdem entspannte Phasen zu haben. Denn abarbeiten, meine Taktik von früher, geht einfach nicht immer.
So schwanke ich also, zwischen Offenheit zu mir selbst und allen anderen und der gemütlichen Verdrängung, die manche Dinge tatsächlich einfacher macht und frage mich: Was ist die richtige Dosis Ehrlichkeit?
2 Antworten zu “Kolumne: Die richtige Dosis Ehrlichkeit”
Gute Frage! Ich bin auch immer eher diplomatisch statt knallhart ehrlich. Und meine Gefühle zu offenbaren… das fällt mir sowieso schwer. Also hab ich quasi Probleme mit unschönen und schönen Ehrlichkeiten :D Natürlich will man keinen verletzen, aber der anderen Seite ist aber auch niemandem geholfen, wenn man Dinge verschweigt, die dann anders rauskommen. Ich glaub, es ist ein Lernprozess, der das ganze Leben nicht aufhört, aber das ist ja mit den meisten Dingen so…
Super interessanter Text, leider erst jetzt entdeckt.
Ich gehöre auch zu der Partie sehr ehrlich. Nur denke ich mittlerweile, dass mein Gegenüber gar nicht immer alles wissen will, weil manches Vergangene auch vergangen bleiben sollte..
Zudem gehöre ich zu denen, die keine Probleme haben die eigenen Gefühle ehrlich zu äußern, aber selbst das ist nicht immer der goldene Weg, weil viele dann damit auch wieder nicht umgehen können? Gleichzeitig zu ich mir schwer Dinge dann für mich zu behalten und somit mit mir allein zu vereinbaren.
Vielleicht kann daher gänzliche Ehrlichkeit auch. belastend sein?
… ich weiß es nicht!