Kolumne: Das (Nicht-)Nutzen von Zeit
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Das Formel-1-Auto rast über die Rennstrecke. Eine Runde, zwei Runden, nach fünf Runden macht es eine Pause. Boxenstopp. Der Motor muss inspiziert werden, Benzin wird getankt. Ein kurzer Check, Verschnaufpause für den Fahrer, dann geht es weiter. Runde für Runde, immer 100 Prozent, denn das Ziel ist klar. Gewinnen – mit möglichster Spitzenzeit das Ziel erreichen.
„Ich will immer zu 100 Prozent leben, auf keinen Fall Zeit vergeuden.“ Ich nicke. Ich verstehe den Ansatz meiner Freundin, dass man die kurze Zeit, die man hier auf Erden verbringt, bestmöglich verbringen will. Alle Chance nutzen, alle Erlebnisse erfahren will, die einem das Leben so bieten kann. Genug Zeit haben wir ja vermeintlich.
Doch was bedeutet es, zu 100 Prozent zu leben? „Na, möglichst seine Zeit zu nutzen, alles mitnehmen, was geht. Ich finde den Zustand, wenn man beispielsweise krank ist und die Zeit verstreicht, ohne dass man sie effektiv nutzt, fürchterlich.“
„Aber manchmal spielt das Leben anders“, antworte ich. „Dann muss man sich dem Hingeben und Akzeptieren.“ „Das ist aber schrecklich, diese Zeit, bis man wieder alles geben kann, ist so verloren.“
Ist sie das?
Manchmal haut das Leben einen um. Trennung, Liebeskummer, der Verlust eines Menschen, eine schwere Krankheit. Das Gefühl für Zeit wird mit der Sekunde der Botschaft außer Kraft gesetzt. Man blickt auf die Zeiger der Uhr, doch fühlen kann man nur das Zeit vergeht. Wie schnell oder langsam ändert sich mehrmals am Tag. Wir blicken auf die rote Leuchtanzeige des Weckers, doch die Zahlen, sie verschwimmen, werden zu einer unklaren Substanz, dessen Bedeutung wir verloren haben. Manchmal da zieht sich die Zeit dann wie eine zähe Masse Bonbon, die gerade noch am Auskühlen ist, manchmal rast sie wie der Flügelschlag eines Kolibris, während wir mit offenen Augen an die Decke starren und nur hoffen, dass sie vergeht, diese elendige Zeit. Das schlechte Gewissen packt uns, denn eigentlich, ja eigentlich sollten wir doch jetzt etwas ganz anderes tun. Rausgehen und uns wieder ins Leben stürzen, einen neuen Partner finden, das Leben feiern nach der Begegnung mit dem Tod, oder die Krankheit Krankheit sein lassen.
So viel verlorene Zeit, was ein Unglück. Oder etwa nicht?
In einer Leistungsgesellschaft wie unserer, in der alles, was wir tun, geradezu nach Wert und Nutzen kategorisiert wird, fällt auch die Zeit – unsere Lebenszeit – darunter. Niemand, wirklich niemand, will am Sterbebett sagen müssen, ich hätte vielleicht noch das und das machen wollen. So wird das Leben zum Wettbewerb des richtigen Nutzens. Ja nichts verpassen, alles mitnehmen, alle Chancen nutzen, denn wir wissen nicht, wann es vorbei ist.
Das ist auch richtig so. Die Zeit für sich nutzen, sein Leben so leben, dass es möglichst lebenswert erscheint, ist ein aller unser Ziel. Wie das aussehen kann, ist die jeweils individuelle Entscheidung. Der eine will möglichst durch die Welt reisen, der andere seinen Familienwunsch leben, während der Dritte die Karriere in den Vordergrund schiebt. Jeder von uns versucht seine Lebenszeit bestmöglich zu nutzen.
Doch das große Aber kommt eben dazu.
Denn wir haben das Leben nicht in der Hand.
Manchmal zwingt es uns zu Pausen, in denen wir die Zeit außer Acht lassen müssen. Dann vergehen Wochen, Monate, manchmal auch Jahre, in denen wir – vermeintlich – auf Sparflamme leben. Nicht jedes Erlebnis mitmachen, weil das Existieren allein schon Kraft kostet. Weil sich in unserem Inneren so viel bewegt, dass die Energie für die äußeren Umstände noch warten muss. Bis wir wieder genug Kraft getankt haben, um uns wieder zu 100 Prozent ins Rennen schmeißen zu können. Dann heißt es sprichwörtlich, es ist an der Zeit, sich die Zeit zu nehmen. Ganz langsam wieder vom Leben zu erholen und fit zu werden.
Würde man einen Rennfahrer fragen, ob die Zeit im Boxenstopp vergeudet ist, würde er wohl nein sagen. Sie gehört dazu, denn nur die Pflege des Motors und das Betanken lassen ihn weiterfahren, das Ziel erreichen.
Zeiten, in denen wir nicht 100 Prozent geben können oder wollen, sind nicht vergeudet. Sie sind wichtig, weil wir heilen, weil wir uns im wahrsten Sinne Zeit geben, Kraft zu tanken, das Leben zu rekapitulieren und neu auszurichten. Wir brauchen jene Pausen, in denen wir ganz nah bei uns sind, in denen wir schwach und zerbrechlich sind und den Fokus auf eines legen: uns ganz allein.
Das Nicht-Nutzen von Zeit, das sich Treiben-Lassen-Müssen, manchmal auch den Stillstand lernen zu genießen, ist genauso wertvoll wie das 100-prozentige pure Leben. Denn nur durch jene Phasen des Lebens erkennen wir, einmal mehr wie wichtig, wie wertvoll unsere Zeit ist. Eine Neu-Ausrichtung, ein neues, anderes Verständnis für das Leben und den Nutzen der Zeit ist gerade dann keine Seltenheit. Auch wenn uns unsere Leistungsgesellschaft genauso wie die eigens kreiierte Fomo gerne etwas anderes sagen will, glaube ich ganz fest daran: Nehmt euch die Zeit.
5 Antworten zu “Kolumne: Das (Nicht-)Nutzen von Zeit”
Wunderbar, wie einem das Leben immer wieder die genau richtigen Bücher, oder in dem Fall diesen Artikel hier, „zuspült“. Die, die genau zu eben DER Lebenssituation passend sind. Und einen trösten und/oder weiterbringen. Danke für diesen wunderbaren Blogpost!
Ich bin bestimmt mindestens 20 Jahr älter als du, und hätte mir gewünscht, ich hätte in deinem Alter auch schon all diese Einsichten gehabt. Gratulation zu so einer Weitsicht!!!
Danke <3 und alles Liebe sowie viel Kraft beim Sich-Zeit-Nehmen!
so ein schoener text!
<3
[…] von Das (Nicht-)Nutzen von Zeit, #Slowtravel: Das Rückbesinnen auf das Grundsätzliche, Travel Diary: Vom Gefühl, woanders zu […]