Steht auf: Die neue deutsche Rassismuswelle
Foto aus Chemnitz: thehenn1ing
Kalt ist es an jenem Abend. Unsere Schuhspitzen stecken im Schnee, von einem Bein aufs andere wippen wir an der Bushaltestelle. Wann kommt bloß der verdammte Bus. Ich weiß nicht warum, aber in jener Kälte frage ich das erste Mal meinen guten Freund. „Sag mal, ist dir in all der Zeit eigentlich Rassismus hierzulande begegnet.“ Er blickt mich an. „Klar, Alltagsrassismus immer wieder, aber auch andere Formen.“ Sprachlos bleibe ich zurück. Erinnere mich aber an all die Male, in denen er in meinem Beisein bloß der Asiate genannt wurde. Sie ihn Chinese nannten, obwohl er aus Vietnam stammt. Bei jedem Schwips die Menschen sagten: „Na, Asiaten vertragen ja nie was.“ Mal ganz abgesehen von der Frage: „Wo kommste eigentlich wirklich her?“ Schon damals ärgerte mich die Ignoranz und Dreistigkeit der Menschen. In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten, eigentlich bis heute, frage ich immer wieder. Erhoffe mir Antworten und Lösungen. Diskutiere mit ihm, der sich dran gewöhnt hat, immer irgendwie nicht ganz dazuzugehören.
An jenem Abend wurde mir das erste Mal klar, in was für einer privilegierten, nahezu unbekümmerten Blase ich gelebt hatte. Das meine Lebensrealität, die sich so frei und ohne Angst anfühlt, nicht auch die von meinen Freunden ist. Ich kann mich immer und überall – schon mein ganzes Leben – frei und ohne Angst hierzulande bewegen. Mein Aussehen lässt niemanden in Frage stellen, woher ich wirklich herkomme. Ich sehe deutsch aus – und die größte Diskriminierung, die ich erfahre, ist die einer Frau. Wie frei sich das immer noch anfühlen kann, merkt man erst, wenn man in die Lebenswelt anderer Menschen eintaucht.
Wer keine Freunde in seinem Umfeld hat, deren vermeintliche Herkunft optisch erkennbar ist, konnte zuletzt über #MeTwo erfahren, wie sich Menschen mit Migrationshintergrund fühlen. Welchen Fragen sie in ihrem Leben begegnen, welche Rechtfertigungen sie treffen müssen und wie oft sie schon Angst hatten – vor Fremdenhass in Deutschland. Erschüttert las ich jene Tweets, erschrocken war ich über all jene Kommentare, die ihre Zweifel äußerten. „Das sei nur Gejammer einer Minderheit“, „So schlimm sei das Ganze ja wohl nicht“ und „Wie empfindlich seid ihr denn?“.
Ich weiß, es fällt schwer, aber ich darf keinesfalls von meiner Lebensrealität, auf die des anderen schließen. Was für mich „nicht so schlimm“ klingt, ist für den andere Alltag. Verletztende Worte, die man immer wieder hört. Sicher: Für uns klingt manches vielleicht „nicht so schlimm“. Aber: Für die betroffene Person schon. Es bricht ihre Identität, ihre Persönlichkeit, immer wieder nur auf ihre Optik, ihre Herkunft, die Herkunft ihrer Eltern runter, die sich vielleicht schon lange nicht mehr als ihre eigenen Wurzeln anfühlt. Wenn man nicht betroffen ist, braucht man eben die Perspektive der anderen. Erst diese macht das Bild komplett. Statt zu urteilen müssen wir zuhören.
Und dann kommt der 27. August. In Chemnitz wird ein Mann erstochen. Ein Wortgefecht in der Nacht, Alkohol, Drogen, Gewalt. Die mutmaßlichen Täter: Zwei Männer aus Syrien und dem Irak. Eine furchtbare Gewalttat, die eine Wutwelle lostritt. Am Tag darauf marschieren Tausende von Nazis in Chemnitz auf, angereist auf Knopfdruck von überall her. Es fallen Hitlergrüße, Migranten werden gejagt, die Polizei steht hilflos daneben.Über Stunden gelingt es den Nazis, Hooligans und Pegida-Aktivisten, große Bereiche der Innenstadt völlig unter ihre Kontrolle zu nehmen.
Das Tötungsdelikt ist aufs Schärfste zu verurteilen, die Justiz wird hier ihr Urteil fällen und eine Strafe finden. Sie rechtfertigt aber in keinster Weise jene Folgereaktion: Selbstjustiz, rechte Hetze, blanker Hass und Instrumentalisierung einer Straftat für das offene Ausleben des Rechtsextremismus.
Das, was jetzt in Chemnitz passiert, ist ist ein katastrophales Verbildlichen dessen, was in den vergangenen Jahren, vielleicht Jahrzehnten, in Deutschland brodelte. Wir haben ein echtes Rassismusproblem in Deutschland – im Jahr 2018. Wem das vorher nicht so ganz klar war, sollte jetzt zumindest endlich aufwachen. Blanker Fremdenhass, der sich wieder offen zeigt. Unbegründete Ängste treffen auf rechte Meinungen. Menschen werden wegen ihres Äußeren gejagt, aus reinem Hass, aus einem Wutbild und Frustration. All jene, deren Aussehen, ihre Haut-, Augen- und Haarfarbe auf eine andere Herkunft hindeuten, müssen diese Bilder aus Sachsen mit noch viel mehr Bestürzung wahrnehmen als ich. Wie es sich anfühlt, sich nicht mehr vor die Türe zu trauen, darüber habe ich mal kurz nachgedacht. So in der Theorie. Wie es aber wirklich ist, erfahren gerade die Menschen in Chemnitz. „Migranten wird geraten, zu Hause zu bleiben“, gab die Polizei bekannt. 2018, es ist unglaublich.
Die größte Gefahr geht nicht von denjenigen aus, die durch Chemnitz ziehen, den Hitlergruß zeigen und Menschen treten. Diese Brandstifter sind für jedermann erkennbar. Die größte Gefahr sind diejenigen, die versuchen, die Herrschaften zu nobilitieren und zu legitimieren.
SZ-Autor Detlef Esslinger zu den Ausschreitungen in Chemnitz
Es ist an der Zeit, dass wir laut werden. Dass wir nicht herunterspielen, was da gerade passiert und sich zeigt, nicht versuchen, dem Verständnis entgegenzubringen oder es zu verharmlosen. Wir, die Menschen, die an eine Vielfalt in unserer Gesellschaft glauben. Wir dürfen uns nicht mehr vor den Ausreden unseres Alltags verstecken. Es gibt Menschen in unserem Land, unserem Umfeld, die Angst haben, die sich womöglich nicht mehr aus dem Haus trauen, aufgrund von Fremdenhass. Da hilft es nicht mehr, hin und wieder ein Facebook-Posting zu machen. Jetzt heißt es, aufzustehen und Taten folgen zu lassen.
Bei der nächsten Demo für eine bunte Gesellschaft und gegen Rechts auf die Straße gehen, egal, wie stark der Kater oder der Schweinehund ist. Gegen Rechts zu sein darf nicht mehr nur ein Lifestyle sein, sondern muss unsere demokratische Aufgabe sein. Wir müssen die Sprache formen, die Dinge nicht weiter verharmlosen, sondern beim Namen nennen – und uns klar machen, dass das in Chemnitz nicht einfach nur eine „Ausschreitung“ ist, sondern ein „Aufmarsch von organisierten Neonazis und Rechtspopulisten“, die den Rechtsstaat aufs Spiel setzen. Wer Menschen aufgrund ihres Aussehen und ihrer Herkunft jagt, ist schlichtweg Volksverhetzer. Mal abgesehen davon, dass auch Lynchjustiz eine Straftat ist – auch, wenn der Sprecher der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel sich in diesen Tagen sogar herausnimmt, genau dazu auf Twitter aufzurufen. Unsere Sprache relativiert derzeit solche Straftaten, Rechtsextremismus und Rassismus. Durch sie – und die Äußerungen vieler Politiker samt AfD wird Rassismus hierzulande wieder salonfähig. „Das kann man doch mal sagen.“
Nein, kann man nicht. Hier dazwischen grätschen, sich dagegenstemmen, und einstehen – für unsere Mitmenschen und eine demokratische freie und tolerante Gesellschaft. Wir dürfen nicht leise sein, nicht mehr nur beobachten, sondern müssen laut werden, uns positionieren und solche rassistischen Entgleisungen aufs Schärfste verurteilen.
Damit Menschen wie mein guter Freund und alle anderen keine Angst haben müssen. Und niemand von uns nach den Bildern aus Chemnitz sagen kann: Wir haben nichts davon gewusst.
4 Antworten zu “Steht auf: Die neue deutsche Rassismuswelle”
Danke Antonia!
<3
Super Antonia, Toll geschrieben
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