Kolumne: Ausschlafen – aus Überzeugung

17. Februar 2020 von in

Ich wache auf, schaue auf die Uhr und erschrecke mich mal wieder: WTF, schon wieder 11 Uhr? Wer schläft denn jeden Tag 10 Stunden? Dann muss ich mich kurz innerlich selbst maßregeln. Ja, ich schlafe ziemlich viel. Und wieso? Weil ich’s kann! Danke Freiberuflerdasein. Danke Kinderlosigkeit. Dass ich das nun so selbstbewusst – sogar mit Ausrufezeichen – proklamieren kann, ist neu. Denn obwohl ich schon immer viel Schlaf gebraucht habe, schon immer vor 12 Uhr zu nichts zu gebrauchen war und schon immer jede Gelegenheit zum Ausschlafen mitgenommen habe, bin ich erst in letzter Zeit dieses Schamgefühl losgeworden. Dieses kleine eingebaute Alarmsystem, das mehrmals am Tag sagt „sei nicht so faul“, „sei nicht so unproduktiv“!

Wer ausschläft, ist nicht effizient – wer nicht effizient ist, ist faul

Dieses Alarmsystem in meinem Kopf stelle ich mir gerne bildlich vor wie den Monopoly-Mann, der mit erhobenem Zeigefinger meine Lebensentscheidungen kritisiert. Denn der verkörpert das eigentliche Problem besser als jeder andere: Den Kapitalismus. Ja, natürlich ist auch hier wieder der Kapitalismus Schuld. Denn er macht, dass wir uns nur im Modus maximal ausgeschöpfter Produktivität als adäquate Mitglieder der Gesellschaft fühlen dürfen. Wer ausschläft, ist nicht effizient – wer nicht effizient ist, ist faul. Und wer faul ist, der hat kein gutes Leben verdient. Es klingt hart, aber genau so funktioniert die weltanschauliche Werkseinstellung in diesem System. Sie macht, dass Hartz IV-Empfänger*innen nach wie vor als kettenrauchende Fliesentischbesitzer*innen dargestellt werden oder dass wir lernen, Obdachlosen kein Geld zu geben – die würden es ja doch nur unsinnig verprassen. Jede Form des Hasses auf Arme – auch Klassismus genannt – hat ihren Ursprung in der Prämisse, dass jede*r zu hundert Prozent für das eigene Glück (oder Unglück) verantwortlich gemacht werden kann. Sowas wie „Privilegien“ existieren in dieser Denke nicht. Und wer ausschläft – naja, der hat eben keine Disziplin und braucht auch nicht damit zu rechnen, es im Leben weit zu bringen. No pain, no gain! Work hard, play hard!

Das Ausschlafen ist nur eines von vielen Dingen, bei denen kleine Monopoly-Mann seinen mahnenden Zeigefinger hebt: Sei es die Verweigerung von regelmäßigem Sport, der fettige Döner am Abend oder schlicht das Zufriedengeben mit einem mittelmäßigen Job. Sie alle gelten im Kapitalismus nicht als wertvolle Tätigkeiten. Wertvoll ist, wer nach nicht weniger als Exzellenz strebt. Wertvoll sind jene Menschen mit Morgenroutine, personalisiertem Fitnessprogramm, hochkarätigem Job und einem Kühlschrank voller Superfoods. Der Haken: Die sogenannte Exzellenz existiert gar nicht, denn niemand weiß, wie sie genau auszusehen hat. Es geht dabei viel mehr um den Weg als um das Ziel – und mit dem Weg meine ich einen ewigen Status des nicht-genug-seins, der ständigen Optimierung, Selbstgeißelung und maximalen Erschöpfung.

Ich schalte meinen Wecker aus! Nimm das, Kapitalismus!

Ich habe schon vor einer ganzen Weile beschlossen, dass ich das nicht will. Und habe angefangen, mich zu deprogrammieren – und zu entspannen. Denn mal ganz ehrlich: Ist es nicht viel erstrebenswerter, sich selbst schöne Dinge zu gönnen? Sich zu vergewissern, dass die eigene Produktivität nicht den Wert als Person bestimmt? Sich zu entspannen und zu sagen: Hey, passt doch alles?! Wenn man das tut – wenn man realisiert, dass all das nur ein abgekatertes Spiel ist, um uns zu produktiven Teilnehmer*innen der Konsumkultur zu machen – dann wird selbst das Ausschlafen plötzlich zu einem rebellischen Akt. Ich schalte meinen Wecker aus! Nimm das, Kapitalismus!

 

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Denn die Schlafenszeit ist einige der wenigen Zeiten in unserem Leben, in denen wir nicht als Teil des Systems agieren. Und das, obwohl Schlaf genau genommen das Gegenteil von unproduktiv ist: Im Schlaf verarbeiten wir schließlich Erlebtes und räumen unser Bewusstsein auf. Das ist sogar extrem produktiv – nur eben nicht für den Kapitalismus, sondern für uns und nur für uns allein. Würde unser persönliches Wohl in der Prioritätenliste weiter oben stehen als ökonomisches Wachstum, dann gäbe es längst überall Gleitzeit, die Schule würde nicht vor 9 Uhr beginnen – und das Ausschlafen wäre keine Tätigkeit mehr, für die wir uns schämen. Denn zig Studien beweisen, wie wichtig Schlaf für die mentale Gesundheit – und, ja, damit ja irgendwie auch wieder für die elendige Produktivität – ist.

Wenn ihr also heute Abend euren Wecker ausschaltet – wenn ihr es könnt –, dann tut es aus Überzeugung! Schämt euch nicht, sondern macht es zu einem Akt der Selbstliebe. Macht es zu einer Absage an eine Welt, die euch unter dem Deckmantel der Selbstverbesserung und der Disziplinierung an den Rand der Erschöpfung bringt. Und dann schreit es von den Dächern: Ich schlafe heute aus! Und das ist mein gutes Recht! Gute Nacht!

Bildcredits: Unsplash 1, 2

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4 Antworten zu “Kolumne: Ausschlafen – aus Überzeugung”

  1. yes yes yes!!! Hab angefangen mich mit soziologischen Ursachen von Selbstoptimierung zu beschäftigen und irgendwie hat vieles von meinem Bestreben nun einen faden Beigeschmack- die Frage nach dem woher kommen diese Bedürfnisse eigentlich?!? Danke für die Artikel

  2. Danke für diesen tollen Artikel! Es gibt so viele großartige Dinge, die das Leben bereit hält, fernab von Leistung und Produktivität. Schlafen gehört dazu :-)!

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