Kolumne: Amelie und die Suche nach Ruhe in Neukölln
Es ist Pfingstmontag, ein Feiertag und die ersten Sonnenstrahlen des Tages kitzeln mich aus dem Schlaf. Es ist gerade mal 7 Uhr morgens. Ich stehe auf, schleiche in die Küche, setze den ersten Kaffee auf und lausche den Geräuschen des kochenden Wassers. Der Kaffeeduft sagt meinem Körper förmlich, es sei Aufstehzeit, denn seit ich in Neukölln wohne, ist es keine Seltenheit mehr, dass ich an Sonn- und Feiertagen zu werktagsähnlichen Uhrzeiten aufstehe. Was zunächst keine Absicht war und mich ärgerte, ist mittlerweile immer häufiger zur Routine geworden: Ich gieße den frisch gebrühten Kaffee in eine Tasse, ziehe mir einen Pullover über und verlasse das Haus. Mein Ziel ist, keines zu haben und meine Intention ist, dem Viertel beim Schlafen zu zu sehen. Seit ich in dem Viertel wohne, das niemals schläft, habe ich mich auf die Suche nach Ruhe begeben und sie gefunden: um 7-10 Uhr morgens.
Selten ist es in meinem neuen Kiez ruhig. So ruhig, dass man den wenigen Gesprächen auf den Straßen lauschen kann und so ruhig, dass man seine Passanten wahr nimmt. Gar so sehr, dass man sich zunickt.
Es ist das Verschwestern zu ungewöhnlichen Uhrzeiten in der Großstadt: Man registriert sich, grüßt sich womöglich sogar, da man zu der Minderheit gehört, die an einem Feiertag um 7 Uhr wach ist.
Das mag die unterschiedlichsten Gründe haben. Die Hermannstraße wird am Morgen der Wochenenden von Studenten in Plateauschuhen und zerzaustem Haar dominiert, die sich in ihren komplett schwarzen Outfits und silberfarbenen Chokern nach einer durchzechten Nacht nach Hause schleppen – na gut, jenes Klientel gehört sicherlich nicht zu dem, das ihr Umfeld wahrnimmt. Dazwischen sieht man aber die Geschäftsfrauen und -männer, die sich auf den Plastikstühlen vor Discountbäckern niederlassen und ihren schwarzen Filterkaffee aus braunen Plastikbechern schlürfen. Womöglich haben sie eine Zeitung unter dem Arm. Man sieht die BäckerInnen und Café InhaberInnen, die sich langsam aus ihren Wohnungen schälen und ruhig und besonnen ihren Tag starten.
Was in München eine Selbstverständlichkeit war, ist hier eine Seltenheit: Während die Münchner schon früh am Morgen in den Tag starten, bewegt sich in Neukölln alles etwas später aus dem Haus. Erst gegen 10 oder gar 12 Uhr mittags sind die Straßen wieder so richtig voll – und dann auch gerne mal bis 3 Uhr nachts. Ich bewege mich oft antizyklisch meiner neuen Heimat – und das gar nicht aus einer Rebellion heraus, sondern aus purer Gewohnheit. Es fängt schon langsam, aber sicher an: Was mich früher gestört hat, fange ich an, zu vermissen. „Wo sind eigentlich all die Menschen?!“, habe ich mich nicht selten gefragt, als ich um 22 Uhr abends die Maxvorstadt entlang lief und mit Entsetzen feststellte, dass selbst im zentralen München um diese Uhrzeit nichts mehr los ist. Jetzt würde ich es mir manchmal wünschen, mein neues Viertel wäre manchmal so leer, wie mein altes. Aber ich bin ja nicht weggezogen, um weiterhin meine Ruhe zu haben, oder?
Pfingstmontag, 8 Uhr morgens in Neukölln: Autos sind eine Seltenheit auf der eigentlich stark befahrenen Straße und selbst einige Spätis, die doch berühmt sind für ihre unendlichen Öffungszeiten, haben zu den frühen Morgenstunden geschlossen. Ich sehe mich um und höre nur sehr wenig. Als ich beim Späti meines Vertrauens vor verschlossenen Türen stehe, fühle ich mich wie der einzige Mensch auf der Welt und ich liebe es. Keine Reizüberflutung wie sonst und so sehr ich die Reizüberflutung manchmal mag, das Bedürfnis nach Ruhe setzt immer wieder ein und ist hier in Neukölln besonders schwer zu bekommen. Denn egal, ob es die Hasenheide ist, das Tempelhofer Feld oder Kreuzkölln am Ufer: Überall sind Menschen, Menschen, Menschen. Außer eben in der Früh und deshalb findet ihr mich genau dann an einem Feiertagsmorgen durch die Straßen spazieren und endlich einmal durchatmen.
Ach, du liebes Neukölln, ich mag dich wirklich gerne. Aber manchmal, manchmal könntest auch du ein bisschen bayerische Gemütlichkeit vertragen. Aber wenn du nicht magst, dann mach ich es mir eben gemütlich: um 7 Uhr morgens auf der Hermannstraße.
9 Antworten zu “Kolumne: Amelie und die Suche nach Ruhe in Neukölln”
Ach Amelie, ich kann das echt gut verstehen, Berlin ist, bis auf wenige Ausnahmen (Zehlendorf, Dahlem, jwd) wirklich laut & reizüberflutend.
Hier ist eigentlich rund um die Uhr irgendwo Theater und ja, ganz oft wünsche ich mir, dass wenigstens die Menschen in den Cafés oder an den Orten, an welche man sich zur Erholung begeben wollte, ein wenig gedämpfter sprechen würden, als sich quer über alle Tische förmlich anzuschreien.
Hier hat ja auch jeder -und das zu jeder Zeit -etwas wichtiges mitzuteilen.
Kein Wunder, dass viele hier so gestresst sind, denn der Lärmpegel ist wirklich enorm.
Und wenn mal keiner spricht, dann fährt mindestens ein Martinshorn, aber meist wenigstens zwei, vorbei. Egal wann :)
Kannst ja mal Hamburg besuchen, da ist auch was los, aber die Leute schreien irgendwie nicht alle so.
Mache ich zurzeit öfter.
Lieber Gruss & eine Packung Ohropax zuwerfend,
Ava
PS: was ist das für ne geile grüne Bluse?
Oh, das würde ich auch gerne wissen!
Hahahahaha du sprichst mir aus der Seele, deswegen sträube ich mich echt davor nach Neukölln zu ziehen, egal wie langweilig Moabit auch sein mag :D
Was da nur hilft ist eine Wohnung im Hinterhaus mit einem großen Hinterhof, der dich von all dem Trubel fernhält :) Nach 5 Jahren Berlin werd ich wohl nie wieder im Vorderhaus wohnen wollen!
LG
Henri
https://kurzschmerzlos.wordpress.com
Zu recht!!! Ich habe auch zwei Zimmer in den Hinterhof raus, anders wäre es wirklich sehr anstrengend.
Mir graut es ja tatsächlich eher davor, wieder im Hinterhaus zu wohnen – da ich es dort aufgrund der Nachbarn (Parties, Gerede etc.) viel viel lauter erlebt habe als jetzt im Vorderhaus. Gerade im Sommer muss doch im Hinterhof nur jemand am offenen Fenster rauchen und quatschen und es hallt dermaßen laut durch den Hof, dass an Nachtruhe gar nicht zu denken ist…
Guten Morgen Amelie, fellow Frühaufsteherin,
Ich empfehle Dir die kommende Weihnachtszeit samt Feiertage in Berlin zu verbringen. Tagtäglich wird die Stadt leerer und leerer, sogar (oder besonders) Neukölln – das sollte man mal erlebt haben.
Liebste Grüße aus Kopenhagen, mit Zimtschnecke
Philippa
Hehe, ich glaube, das macht fast jeder durch, der nach Berlin zieht. Ich wohn zwar im Wedding, aber auch dort musste ich mich erstmal dran gewöhnen, dass es um 23 Uhr halt noch nicht leise ist. Selbst in den Wohnungen, in denen Kinder leben, ist erst gegen ungefähr Mitternacht die Geräuschkulisse verstummt. Inzwischen seh ich es auch als Vorteil, mir noch um 22 Uhr was zu Essen kaufen zu können ums Eck, statt wie in Wien panisch um 18 Uhr die letzten Supermärkte aufzusuchen.
Aber tatsächlich, die Ruhe zu finden ist nicht ganz einfach in Berlin, immer noch nicht. Wird es wohl auch nicht so schnell sein.