Kolumne: Vom Älterwerden und der Gefahr, zu verschwinden
Es war letzten Montag, ich kam nach einem langen Arbeitstag mit anschließendem Termin nach Hause und schaffte es plötzlich einfach nicht mehr, umzuschalten. Abzuschalten, mich in die Zeit abseits der Arbeit fallen zu lassen, mich zu erholen. Irgendwo in mir waberten Traurigkeit, Unzufriedenheit, Überforderung. Erschöpfung. Doch in meinem Kopf war nichts als Gedanken an den nächsten Arbeitstag, To Dos, die umher schnellten, bis ich sie auf meine Liste im Handy eintrug. Ein inneres Zittern, das nirgendwo entladen werden konnte. Ich legte mich aufs Sofa und machte den Fernseher an, das Gefühl wurde nur schlimmer. Ich schaltete den Fernseher aus, legte mich ins Schlafzimmer, ohne Bildschirme, schaute in ein Buch. Das Gefühl wurde wieder nur schlimmer. Ich versuchte Entspannungstricks für solche Situationen, versuchte, meine Gedankenknäuel zu sortieren und zu verstehen, was überhaupt grade mit mir los war, doch in die Gedanken mischten sich immer wieder To Dos, die ich nicht vergessen durfte. Am Ende schlief ich früh ein, wie so oft momentan, und wachte so früh auf, dass ich eine der ersten im Büro war, und besonders früh mit allen To Dos anfangen konnte.
Die letzten Wochen sind besonders extrem. Zum Jahresende ballen sich Aufgaben, die noch erledigt werden müssen, dazu jongliere ich gerade temporär noch mehr Jobs als sonst und bin viele Wochen am Stück nicht im Homeoffice. Jeder Morgen läuft gleich ab, zu den vielen To Dos kommt der Arbeitsweg, die volle U-Bahn, der ganze Tag voller sozialer Interaktion und Reizüberflutung. Und mein Kopf, der durch all das nicht mehr abschalten kann. Die Abende, an denen ich eigentlich herunterkommen möchte, fühlen sich nur an wie kurze Verschnaufpausen, bevor der Marathon weitergeht. Und selbst abends gibt es oft noch etwas zu tun, der Laptop wird nicht zugeklappt, und auch Freitagabend wird noch etwas erledigt, damit der Montag nicht ganz so schlimm wird.
Ich habe mich, wie so oft am Jahresende und wie so viele, mal wieder arbeitsmäßig übernommen. Doch wenn ich mich gerade so umschaue, bin ich nicht die einzige. Fast allen meiner Freunde geht es gerade genauso. Treffen zu finden ist mit allen, die man nicht sowieso sehr oft und spontan sieht, schon lange zu einer Aufgabe geworden, die sich wie das Arrangieren eines Arbeits-Calls anfühlt. Und statt Zeit und Raum zu haben, wirklich gemeinsam Dinge zu erleben, bleibt oft nur Zeit zu erzählen, was eigentlich gerade alles so los ist.
Wer sind wir, wenn wir unsere meiste Zeit mit Arbeit verbringen?
Was wir arbeiten, bekommt spätestens ab Mitte 20 einen immer höheren Stellenwert. Wir schlagen unsere Wege ein, haben Wünsche und Ziele, und viele sind bereit, auch viel dafür zu geben. Auch für mich ist meine Arbeit ein sehr wichtiger Faktor meines Lebens, sicherlich auch meiner Identität. Ich habe das Glück, sehr viel selbst entscheiden, aussuchen und lenken zu können und meine Arbeit als Freiberufliche so zu gestalten, dass sie zu meiner Vorstellung passt, wie mein Leben aussehen könnte. Dass das mit stressigen Phasen einhergeht, in dem sich alles ballt, nehme ich in Kauf, denn das Große und Ganze ist genau das, was ich mir gewünscht habe.
Und trotzdem: Gerade wenn die eigene Identität sich in der Arbeit widerspiegelt und man bereit ist, sehr viel Zeit und Kraft hineinzustecken, verändert man sich Schritt für Schritt. Mehr berufliche Möglichkeiten fühlen sich erstmal toll an, und ich bin in solchen Situationen immer erstmal bereit, andere Dingen hinten anzustellen: mein Sozialleben, Reisen, Sport. Zeit. Sich treiben lassen. Denn berufliche Chancen kommen nicht jeden Tag vorbei, und sie zahlen sich aus, später – so denkt man.
Aber wann ist das später? Und wo ist man bis dahin?
Was man dabei aber oft vergisst: Je mehr man die Dinge, die einem wichtig sind, auf später verschiebt und je voller man sich die Gegenwart mit To Dos vollpackt, desto weniger bleibt von einem selbst in dieser Gegenwart übrig. Man hat weniger Kraft, weniger Zeit, weniger Raum – für sich selbst. Plötzlich sieht man andere ihr Leben leben, sieht sie spontan verreisen, sich durch das herbstliche Italien treiben lassen, oder einfach mal einen sonnigen Montag in der Seesauna verbringen. Das eigentliche Leben, das abseits von jeglichen Bildschirmen und Meetings stattfindet, und das ich vor lauter Erschöpfung in meinen stressigen Phasen manchmal kaum mehr zustande bringe.
Abends unter der Woche etwas zu unternehmen setzt mich oft zusätzlich unter Druck, und die Male, die ich in den letzten besonders anstrengenden Wochen um 9 Uhr ins Bett gegangen und sofort eingeschlafen bin, kann ich nicht mehr nur an einer Hand abzählen. Am Wochenende verbringe ich noch verhältnismäßig viel Zeit mit FreundInnen, für richtiges Treibenlassen und wirklichen gemeinsamen Unternehmungen über schöne Abendessen hinaus ist aber meist weder Zeit, noch Kraft vorhanden. Und neben Erledigungen und Haushaltskram lande ich dann doch wieder auf dem Sofa, während ich schon wieder an die To Dos für Montag denke.
Das Leben über 30 ist eine ewige Gefahr zu verschwinden, wenn man nicht aufpasst
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Paulina Czienskowski schrieb vor Kurzem auf Instagram über das Gefühl, sich aufzulösen, als Mutter eines Babys.
Sie schreibt: „es ist so leicht, sich selbst zu vergessen
fast alles steht in relation zum kind
jeder gedanke, jede noch so marginale entscheidung, jede tätigkeit
es passiert fast unbemerkt: die eigene existenz ist nur noch durch und übers kind sichtbar“
Wie das Leben mit Baby in diesen Gesamtzustand des Lebens in den 30ern reincrasht, kann ich mir nur ansatzweise vorstellen. Doch selbst ohne Kind fühle ich seltsamerweise jede Zeile. Und habe das Gefühl, in dieser seltsamen Zeit der 30er fühlt es sich wohl für viele so an, als würde man sich verlieren. Sich zu verlieren in der Situation, rund um die Uhr für ein kleines Baby verantwortlich zu sein, für das man komplett verantwortlich ist und dessen Bedürfnisse vor die eigenen treten. Sich zu verlieren im Gefühl, genau jetzt alles für die Arbeit geben zu müssen, um sich das richtige Fundament für später aufzubauen. Sich zu verlieren in Identifikations-Projektionen, die nicht mehr die eigene Persönlichkeit sind. Sondern nur noch das, was man glaubt sein zu müssen. Erwartungen von außen, die wir uns selbst überstülpen, statt auf uns selbst und unsere Bedürfnisse zu hören.
Die eigene Identität ist für viele plötzlich vielmehr über äußere Faktoren verbalisierbar, als über das eigene Innere. Über das Kind, was ich so gut nachvollziehen kann – wie soll man in dem Ausnahmezustand mit Baby noch irgendeinen Gedanken über sich selbst fassen können? Für alle ohne Kind scheint jedoch auch der Job zur Identifikations-Projektionsfläche zu werden, je älter man wird. Und selbst wenn man reflektiert, wie das kapitalistische System uns beeinflusst und genau diese Bestätigung in der Produktivität nicht will, passiert genau das beim Erwachsenwerden trotzdem. Plötzlich fällt in den ersten Sätzen immer öfter das, was man beruflich macht. Plötzlich schießen einem den ganzen Tag, Abend und nachts Gedanken durch den Kopf, die mit der Arbeit zu tun haben. Plötzlich hört die innere Unruhe nicht mehr auf, die Arbeit absorbiert einen, und man wird zu der Figur, die man mit 20 nie sein wollte.
Wie kommt es, dass wir uns in den 30ern nicht mehr um uns selbst kümmern?
Mit Kind oder ohne, für mich selbst und auch mein Umfeld wird es in den letzten Jahren immer selbstverständlicher, nicht mehr so viel an sich selbst zu denken. Nicht mehr zu überlegen, was einen eigentlich glücklich macht, bereichert, inspiriert. Die eigenen Bedürfnisse aus dem Kopf zu drängen und nur noch zu funktionieren. Im Arbeits-Hamsterrad, das keinen Raum mehr für einen selbst lässt.
Mit 20 war für mich die große Frage, was mich bereichert, was mich inspiriert, immer präsent. Ich studierte Kunstgeschichte, weil ich meinen Kopf füttern wollte. Reiste so viel ich konnte, um so viel wie möglich zu sehen und aufzusaugen. Zeit mit meinen FreundInnen war das Wichtigste für mich, und diese Zeit ging weit über gemeinsame Abendessen hinaus. Ich ging so viel wie möglich in Museen, las viel, und kümmerte mich um mich selbst.
Dass das Kümmern um sich selbst plötzlich aufhört, hört man meistens im Zusammenhang mit Kindern. Denn natürlich ist das die allergrößte Veränderung, die dazu führt, dass man sich selbst zurückstellt, auch zurückstellen will. Doch habe ich momentan das Gefühl, dass wir auch unabhängig vom Kinderkriegen mit dem Älterwerden vergessen, uns um uns selbst zu kümmern. Uns genug Zeit für uns und all das, was uns bereichert, zu nehmen. Wir stürzen uns in Produktivität und die Arbeit und fangen an, uns immer mehr darüber zu identifizieren. Haben keine Kraft mehr für das, was uns wirklich bereichert. Haben nur noch Gedanken im Kopf, die sich um die nächsten To Dos drehen. Schaffen es manchmal sogar nicht mal mehr, uns auszuruhen. Wir fangen an zu verschwinden.
Soll das das Erwachsenwerden sein?
Nach und nach nur noch an Verpflichtungen zu denken, die rund um uns herum stattfinden, und nicht mehr an unser Inneres? Ich denke und hoffe nicht. Und nehme mein aktuelles inneres Zittern zum Anlass, mir mehr Gedanken darüber zu machen und gegenzusteuern. Im Dezember wird so viel runtergefahren wie möglich und die Arbeits-To-Dos auf das Allernötigste beschränkt. Die Zeit zwischen den Jahren so wenig an jeglichen Bildschirmscreens wie möglich verbracht. Und das neue Jahr vor allem mit einem großen To Do gestartet: Mir wieder mehr Raum für mich zu nehmen. Arbeitszeit zu verringern, wenn es irgendwo möglich ist, mehr ins Homeoffice auszuweichen, aber gleichzeitig auch die eigenen Gewichtungen und Prioritäten zu hinterfragen. Hilfe zuzulassen, wo es möglich ist. Und nicht nur Pausen einzuplanen, sondern wirkliche freie Wochen, in denen das Treibenlassen wieder möglich ist. Denn egal ob Kinder oder nicht – wir alle scheinen Gefahr zu laufen, uns beim Erwachsenwerden irgendwo ein bisschen zu verlieren. Und für das Wiederfinden brauchen wir vor allem eines: Zeit für uns.
8 Antworten zu “Kolumne: Vom Älterwerden und der Gefahr, zu verschwinden”
Fühle ich komplett. Danke, dass du dir trotz allem die Zeit genommen hast, das aufzuschreiben, liebe Milena.
Danke dir <3 Das hilft manchmal sehr, alles aufzuschreiben. Und sowieso ist amazed immer mein Leuchtturm zwischen allen Jobs :)
[…] letzten Wochen waren mehr als wild, mir ging es ähnlich wie Milena es in ihrer Kolumne beschreibt. Im Fokus stand vor allem eines: das Wegarbeiten von Tasks. Keine Zeit für schöne […]
Kenne das Gefühl nur zu gut. Tatsächlich hatte es sich 2-3 Jahre nach meiner Festanstellung eingestellt: „Soll es das jetzt gewesen sein? Jeder Tag gleich – bis zur Rente?“ Das zieht natürlich runter. Ich habe Gegenmaßnahmen ergriffen, Arbeitszeit reduziert, nehme mir schöne Dinge auch unter der Woche vor, auf die ich mich freuen kann. Und auch wenn sich diese Unternehmungen manchmal stressig anfühlen: ist es dann so weit, kann ich sie doch genießen. Leckeres Essen mit Freunden, ausgiebiges Telefonat, Stadtbummel, meinem Hobby nachgehen (ich habe mir aktiv eins gesucht und spiele jetzt zum Ausgleich ein Instrument). Alles low key, ohne nötige Vorbereitung. Aber man muss dran bleiben! Sonst gewinnt der Trott…
Ich danke dir sehr für deine Worte, die gerade das, was in mir vorgeht, so gut wiedergeben.
Leider für viele auch: sich zu verlieren im Kinderwunsch, während alle anderen jammern wie schwierig es ist, Eltern zu sein. Verloren sein, weil dieses Thema so Tabu ist.
So ein wichtiges Thema! Das werden wir auf jeden Fall auch noch ausführlicher aufgreifen. Du bist damit nicht allein <3
[…] Zukunft etwas eingeschränkter in unseren Entscheidungen, müssen andere Menschen mitbedenken und stecken in so vielen Verpflichtungen, dass gar keine Kraft mehr für die Selbstbestimmtheit […]