Kolumne: Kein Mensch ist unpolitisch
Grundlegende Menschenrechte gibt’s bei uns – zumindest noch – quasi gratis zur Geburtsurkunde dazu. Wir leben in einem der politisch stabilsten und freiheitlichsten Ländern der Welt. Cool, oder? Das bedeutet aber nicht, dass man uns diese Rechte und Privilegien, die wir genießen, nicht auch wieder wegnehmen kann – Belege finden sich in jedem Zehnte-Klasse-Geschichtsbuch. Und es heißt auch nicht, dass wir uns nicht dessen bewusst sein sollten, wie absolut rein gar nicht selbstverständlich das ist – und dass es unsere Aufgabe allein ist, dafür zu sorgen, dass wir unsere Rechte auch behalten.
Sei kein Trittbrettfahrer
Wir haben diese Rechte nicht einfach so, als eine Art Geburtsrecht. Wir haben sie, weil viele Generationen von Menschen vor uns dafür gekämpft, gelitten und Opfer gebracht haben – nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Menschen, die in Zeiten, die sich ähnlich angefühlt haben könnten wie heute, auf die Straße gegangen sind und Dinge gefordert haben und nicht von sich behauptet haben, dass sie „mit Politik nichts anfangen können“. Und damit kommen wir zum Thema: Demokratie-Trittbrettfahrer. Menschen, die sich als unpolitisch bezeichnen. Menschen, die nicht wählen gehen mit Begründungen wie „Politiker wollen uns doch eh alle verarschen“ oder „meine Stimme ändert doch sowieso nichts“. Und die trotzdem alles an Rechten und Privilegien mitnehmen, was andere für sie erkämpfen – danke, nehm’ ich, kost’ ja nix, bis zum nächsten Mal!
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Sich als unpolitisch bezeichnen zu können ist ein großes Privileg. Es bedeutet, dass die eigenen Privilegien nie infrage gestellt worden sind. Denn spätestens, wenn einem grundlegende Rechte verwehrt werden, ist „unpolitisch sein“ keine Option mehr. Marginalisierte Gruppen wie Geflüchtete, People of Color oder Homo-, Inter- und Transsexuelle können Lieder davon singen. Das machen sie auch. Aber angeblich unpolitische Menschen hören nicht hin, denn es geht sie nichts an – denken sie. So lange, bis dann eben die eigenen Rechte auch mal zur Debatte stehen. Aber dann könnte es schon zu spät sein. Das hat die Welt vor gar nicht allzu langer Zeit schon mal erlebt, und unzählige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben immer und immer wieder darauf hingewiesen, dass es vor allem die Trittbrettfahrer waren, die dafür gesorgt haben, dass es so weit kommen konnte: Menschen, die dachten, Politik beträfe sie nicht. „Die Weltgeschichte ist nicht nur eine Geschichte des menschlichen Mutes, sondern auch eine Geschichte der menschlichen Feigheit.“ Das schrieb der jüdisch-österreichische Schriftsteller Stefan Zweig im Jahr 1929 – noch bevor er wissen konnte, auf welch brutale Art sich dieser Satz bald bewahrheiten würde.
Ein unpolitisches Leben ist nicht möglich
Mit großen Privilegien kommt große Verantwortung – so oder so ähnlich hat das auch schon Spiderman gesagt. Und im besten Fall fordert man Rechte nicht nur für sich selbst ein, sondern auch für andere: Für Menschen, die gegenüber einem selbst diskriminiert und benachteiligt werden. Das nennt man dann Solidarität. Oder – wenn ihr es lieber unpolitischer habt – Empathie.
Versteht mich nicht falsch – ich kann den Reiz eines komplett unpolitischen Daseins extrem gut nachvollziehen. Politik nervt total. Sie ist anstrengend und zermürbend und langwierig und mühsam. Aber wisst ihr, was noch mühsamer ist? Ein Leben, das von Repression, Zensur und Verfolgung geprägt ist. Wer das gerne verhindert sehen würde – nicht nur für sich, sondern für alle Menschen – der hat nicht unpolitisch zu sein.
In politisch stabilen Zeiten – also ungefähr in unserer gesamten Lebenszeit bis vor ein paar Jahren – ist es ein bisschen leichter, so zu tun, als als könnte man es sich aussuchen, ob Politik einen betrifft oder nicht. Aber: Ein unpolitisches Leben ist nicht möglich. Denn Politik betrifft jeden, täglich, ständig und unmittelbar. Das Private ist politisch. Und jeder Mensch ist politisch, weil Politik ihn täglich betrifft. Deine Wohnung, deine Ausbildung, dein Job und sogar das Wasser aus deinem Wasserhahn sind politisch. Und du bist es auch. Politik ist kein spaßiges Hobby für Akademiker, Antifas und Fans von Oli Welke. Das gilt nicht nur für gruselige Zeiten wie jetzt, sondern immer. Aber trotzdem doppelt in gruseligen Zeiten wie jetzt.
Der Fluch, in interessanten Zeiten zu leben
„Der Sinn von Politik ist Freiheit“ hat Hannah Arendt mal gesagt. Es ist die Verantwortung jedes Einzelnen, sich für diese Freiheit zu interessieren. Denn ist sie einmal weg, kommt sie so schnell nicht mehr wieder – und nicht nur für die politischen Trittbrettfahrer, sondern für uns alle. Hannah Arendt hat auch mal gesagt, dass es ein Fluch ist, in interessanten Zeiten zu leben. Vielleicht hat sie damit auch gemeint, dass es uns diese interessanten Zeiten nicht mehr länger erlauben, uns auf unseren Grundrechten auszuruhen. Denn ehe wir uns versehen, werden sie uns unter’m Hintern weggezogen.
Bildcredits: Ryan Alimon, Alex Radelich via Unsplash
Eine Antwort zu “Kolumne: Kein Mensch ist unpolitisch”
Dem ist quasi nichts mehr hinzuzufügen. Sehr starker Artikel; und so passend anlässlich des 100. Jahrestags des Frauenwahlrechts!