Kann man es sich überhaupt noch erlauben, unpolitisch zu sein?
Letzte Woche war ich auf drei Demonstrationen. Das ist mehr, als ich in meinem Leben bis zum Jahr 2015 zusammen war. In einem wichtigen Jahr änderte sich schlagartig alles. Ich wurde politischer, lauter, wütender. Denn wer einmal anfängt, das System, in dem wir alle stecken, zu hinterfragen, wird irgendwann nicht mehr damit aufhören können. Wieso sind Freundschaften unter Frauen anders als unter Männern? Wieso verdienen Frauen weniger? Wieso gibt es strukturelle Unterschiede auf der Welt? Ich konnte nicht mehr aufhören, mir Fragen zu stellen. Wieso definierte ich mich überhaupt als „Frau“? Ich hinterfragte meine Sexualität und bezeichne mich heute als bi. Das ist alles echt schön und befreiend, doch darum geht es heute gar nicht. Es geht um den weniger schönen Part, nämlich die Arbeit, die hinter der Befreiung steckt.
Ich will gar nicht wissen, wie viele Stunden ich für zähe Diskussionen zum Thema Menschenrechte vergeudet habe. Vergeudet, weil sie damals scheinbar sinnlos erschienen. Wahrscheinlich könnte ich, diese sinnlosen Diskussionen zusammengefasst, einen Urlaub auf den Malediven machen oder so, aber das mache ich nicht, weil mir leider keine Urlaubstage für zähe Diskussionen angerechnet werden und weil ich nicht mehr so viel fliege. Mist. 2015 habe ich in München mit Männern (und leider auch Frauen) darüber gestritten, ob Feminismus überhaupt nötig sei. Ich habe ihnen erklärt, was Feminismus überhaupt bedeutet. Sie haben mir oft nicht zugehört. Diese Gespräche waren nicht immer bereichernd, im Gegenteil, sie waren zermürbend, nervenaufreibend, anstrengend, frustrierend.
Heute muss ich glücklicherweise keine grundlegenden Diskussionen mehr über die Daseinsberechtigung von Feminismus diskutieren. Wahrscheinlich haben wir alle dazu gelernt. Aber wie kam es dazu, dass alle dazu gelernt haben? Dadurch, dass eine Handvoll Menschen Aufklärungsarbeit geleistet hat, sich gestritten hat und auf die Straße zum Demonstrieren gegangen ist. Andere sind auf den Zug aufgesprungen und haben die Nachrichten verbreitet. Wer nicht laut ist und wer nicht bereit ist, zu streiten, wird nichts verändern. Sonst gäbe es ja gar keine Demonstrationen auf dieser Welt. Auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlt, doch für etwas einzustehen verändert etwas. Wenn auch langsam, wenn auch unscheinbar.
Ich könnte noch viel mehr machen, als auf ein paar Demos zu gehen, auf amazed Artikel zu veröffentlichen, zu spenden, mich auf Twitter zu streiten und so weiter. Schon klar. Doch ich positioniere mich. Und das, obwohl die Aufklärungsarbeit manchmal ganz schön nervig ist. Dafür brauche ich keinen Applaus, das wäre ja bescheuert. Doch es gibt Menschen, ja Freundinnen und Freunde, in meinem Umfeld, die nicht auf Demos gehen. Die keine Aufklärungsarbeit leisten. Die nicht streiten wollen, weil sie keine Lust auf Streit haben. Sie sagen dann, das wäre nicht so ihr Ding. Dann muss ich aber kurz schlucken. Ist es mehr „mein Ding“ als ihres, an einem verregneten Mittwochabend vier Stunden auf die Straße zu gehen und „Open the Borders“ zu schreien? Nein. Auf Demos zu gehen und mit Nazis zu streiten ist kein Hobby.
Schon klar: Würden alle Menschen wütend auf die Straße rennen, um die Welt zu verändern, würde wahrscheinlich schon bald auch in Deutschland Krieg ausbrechen. Aber man weiß es halt auch nicht, weil vielleicht würden wir – die, die sich gegen die Rechte radikal positionieren – in der Masse wirklich etwas verändern können. Und diese große Masse entsteht nicht, wenn gewisse Personen beispielsweise am Sonntag, 8. März, den Frauenkampftag, lieber Blaubeerkuchen backen, statt mit uns auf die Straße zu gehen.
Wie weit dürfen wir uns dem Weltgeschehen entziehen?
Die Frage treibt mich nun schon seit Monaten rum. Wie weit dürfen wir uns dem Weltgeschehen entziehen? Und wie weit ist es unsere Pflicht, für andere Menschen einzustehen und für Menschenrechte zu kämpfen? Hätte es nie die gegeben, die die Drecksarbeit erledigen, würden wir Frauen wahrscheinlich noch unsere Ehemänner fragen müssen, ob wir arbeiten gehen dürfen. Es hat mich dieses Jahr zum ersten Mal ein bisschen gestört, dass manche Personen nicht demonstrieren waren. Nicht nur am Frauenkampftag, auch ein paar Male davor schon. Dabei ist das vielleicht unfair und zu viel erwartet. Oder? Oder sollten wir unseren Freundinnen und Freunden einfach mal einen Arschtritt verpassen, wenn sie sich zu sehr auf ihrem Privileg ausruhen? So wie in Wohngemeinschaften, in denen die einen immer putzen und die anderen nicht. Vielleicht wäre es mal an der Zeit für eine weitere, anstrengende Diskussion. Eine Diskussion, in der man aber hoffentlich einen gemeinsamen Nenner findet, auf dem sich alle Beteiligten wohl fühlen.