Ist der Lärm um Harry Styles gerechtfertigt?

20. November 2020 von in
Credits: @voguemagazine
Foto: Tyler Mitchell 
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Jetzt hat er es schon wieder getan. Harry Styles hat die Modewelt erschüttert, ja, schon wieder revolutioniert. Als erster Mann ziert er das Cover der Vogue und setzt damit einen Meilenstein. Dafür bekommt er viel Applaus – und wir applaudieren mit. Es ist revolutionär, dass ein Mann, der sich als solcher identifiziert, sich mit Spitzenkleid zeigt, mit Tüllrock, Perlenkette und Lippenstift. Es ist fast schon anarchisch mit anzusehen, wie ein Stilidol und Musiker Harry Styles angehimmelt wird von Frauen, Männern, non-binären Personen, halt allen. Dass er mit seinem Kleidungsstil Grenzen überwindet – ganz unabhängig von seiner Sexualität. 

Gleichzeitig zeigt der Aufruhr, den der ehemalige One-Directions-Star mit seiner Garderobe erzeugt, wie sehr wir noch am Anfang stehen. Denn sollte es im Jahr 2020 nicht normal sein, dass Frauen Hosenanzug tragen dürfen und Männer Spitzenkleider? Die Realität ist noch eine andere. Der Begriff Unisex ist immer noch eine Einbahnstraße. Denn Frauen haben in ihrem Ausdruck schon lange mehr Freiheiten als Männer. Während Marlene Dietrich in den 30er-Jahren mit Anzug und Krawatte Aufsehen erregte und als Stilikone galt, tun sich umgekehrt 90 Jahre später hetero cis Männer immer noch schwer, diesem Vorbild nachzutun, und ihr Klischee aufzubrechen. Während ich übergroße Männershirts trage, Jeans, Anzüge, Blazer mit Schulterpolstern, und eben alles, was unter den Begriff „Unisex“ fallen würde, ist eine Perlenkette weit entfernt von der heutigen Idee von „Unisex“. 

 

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Im Jahr 2020 darf ein hetero-cis-Mann zwar ebenso eine Perlenkette und Nagellack tragen, aber weiblich gelesene Accessoires wie diese werden immer noch als politisches Statement gesehen. Bestenfalls. Im schlechteren Fall wird ein Kleidungsstil wie dieser mit sexueller Orientierung gelesen, obwohl diese gar nicht unbedingt zutrifft. Schlimmstenfalls werden sie verurteilt. Und in der Verurteilung liegt natürlich auch das größte Problem. Sie bremst viele Menschen in ihrer Entfaltung aus, sie richtet sich aber auch an Frauen und Personen aus der LGBTQIA Community, die mit genau diesen Accessoires in Verbindung gebracht werden. Wer sich über einen cis Mann lustig macht, der beispielsweise einen Lippenstift trägt, weil er dadurch aussieht als sei er „schwul“ oder „ein Mädchen“, der stuft doch damit queere Personen oder weibliche Personen herab. Denn was ist daran lustig oder falsch, so auszusehen? 

Es ist revolutionär, dass ein nicht-schwuler cis Mann, ein Rockstar, ein Superstar, wie Harry Styles sich einer weiblich gelesenen Garderobe bedient, ohne damit ein politisches Statement zu setzen. Und es ist ein Trauerspiel, dass es revolutionär ist. Wir sollten doch schon viel weiter sein als das, oder? 

 

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Vor allem, weil trans Menschen of Color doch jeden Tag genau dafür kämpfen. Weil doch genau dort der Ursprung der genderfreien Mode liegt. Weil Rockmusiker der 70er-Jahre nichts anderes gemacht haben. Weil viele Schwarze Musiker wie Tyler, The Creator ebenso Femmedressing betreiben, ohne einen vergleichbaren Hype damit generiert zu haben. Weil sich die LGBTQIA Community seit Jahrzehnten für freie Entfaltung einsetzt. Um sich so kleiden zu dürfen, wonach uns ist. Um sich zu fühlen, wonach man sich fühlt. Um zu lieben, wen man lieben möchte. Um die Person sein zu können, die man sein will. Sie ebnete einen Weg, den Harry Styles überhaupt zu einer Ikone machen konnte. Wäre sie nicht gewesen, wäre er vermutlich nicht mal auf die Idee gekommen, dass Femmedressing eine Option sein kann. Und wenn doch, wäre er niemals dafür gefeiert worden. Es ist wie mit allem: Etwas muss erst politisch werden, damit es unpolitisch werden kann. Damit genderneutrale Bekleidung eine Selbstverständlichkeit werden kann, die allen Menschen die Freiheit bietet, sich so zu entfalten wie ihnen lieb ist. Unabhängig von ihrem Geschlecht, Gender oder Sexualisierung.

 

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Jetzt ist er halt doch er auf dem VOGUE Cover und beispielsweise keine trans Person of color, die die Wurzel der genderneutralen Mode ist. Harry Styles, als weißer und nicht-schwuler cis Mann, ist das Endprodukt von etwas, wofür andere gekämpft haben. Er ist nicht der Ursprung des Aufbruchs von Gendernormen. Er ist ein Mann, der das Privileg genießt, endlich Abendroben auf dem VOGUE Cover tragen zu dürfen. Das darf nicht vergessen werden. 

Trotzdem darf man sich aber freuen. Das Shooting ist fantastisch. Denn das Ziel sollte eine genderneutrale Mode sein, ein echtes Unisex, das in beide Richtungen funktioniert. Dass Harry Styles es aufs VOGUE Cover geschafft hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Und damit ein Schritt näher dran, an der Normalität. Ohne Aussage, Verurteilung, Meinung. Eben genderneutrale Entfaltungsfreiheit. 

LGBTQIA = Lesbians, Gays, Bi, Trans, Queer, Intersex, Asexual

Cisgender = Übereinstimmung des Geschlechts mit der Geschlechtsidentität 

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5 Antworten zu “Ist der Lärm um Harry Styles gerechtfertigt?”

  1. „Jetzt ist er halt doch er auf dem VOGUE Cover und beispielsweise keine trans Person of color, die die Wurzel der genderneutralen Mode ist. Harry Styles, als weißer und nicht-schwuler cis Mann, ist das Endprodukt von etwas, wofür andere gekämpft haben. Er ist nicht der Ursprung des Aufbruchs von Gendernormen. Er ist ein Mann, der das Privileg genießt, endlich Abendroben auf dem VOGUE Cover tragen zu dürfen. Das darf nicht vergessen werden.“

    Ich frage mich in wie fern du belegen kannst und möchtest, dass der „Ursprung“ eines gewissen Stils oder Lifestyles wie genderneutral oder genderfluid fashion bei einer bestimmten Personengruppe oder Community liegt. Klar, liegt es *gefühlt* auf der Hand, dass es ein immer Teil queeren Lebens(gefühls) war, aber in wie fern wertet es das Handeln oder die Bedeutung von diesem Shooting auf oder ab, wenn jemand aus der „urprünglichen“, „authentischen“ Community es getan hätte?

    Ich kann verstehen, dass es wichtig ist, sich die kulturellen Urprünge gewisser Praktiken anzuschauen um sie im gegenwärtigen Kontext einordnen zu können, gleichzeitig kann man sich auch darin verlieren und dann entstehen meiner Meinung nach zu nichts führende Diskussionen, über einen oftmals konstruierten, authentischen Ursprungs und wer jetzt was „darf“. Was dann in den Hintergrund rückt ist die Außeinandersetzung mit der eigentlichen Geste, dem Handeln und der Intention und den Gedanken des handelnden Subjekts, in dem Fall Harry Styles, und einem Blick auf die Gesellschaft in in der dieses Handeln stattfindet, nämlich eine immer noch zutiefst patriarchale, die trotz existierendem „cismale privilege“ Männern sehr traurige, einengende Rollen zuschreibt. Anstatt dass es wirklich darum geht was Harry Style denkt, was es in ihm auslöst, was dieses Shooting und so wahrgenommen zu werden mit ihm macht, ob es befreiend ist oder nicht etc. wird sich MIT Harry Styles vermeintlicher Identität und deren vermeintlicher Bedeutung auseinandergesetzt und dann werden ihm von außen komische Dinge zugeschrieben oder hätte-hätte Szenarien aufgebaut „Sie ebnete einen Weg, den Harry Styles überhaupt zu einer Ikone machen konnte. Wäre sie nicht gewesen, wäre er vermutlich nicht mal auf die Idee gekommen, dass Femmedressing eine Option sein kann. Und wenn doch, wäre er niemals dafür gefeiert worden.“.

    Da frag ich mich warum solche Unterstellungen überhaupt gemacht werden und wohin die führen sollen? Sie implizieren, dass man eine sehr sehr spezifische Identität haben muss, um in gewissen Diskursen ernst genommen werden zu können, überhaupt eigentlich „sprechen“ oder „handeln“ zu dürfen.. das ist meiner Meinung nach ein ganz schön problematischer Blick auf das Individuum und Gesellschaft, es negiert auch irgendwie komplett die Mündigkeit des Einzelnen. Deshalb kommt es meiner Meinung nach auch in letzter Zeit vermehrt zu Fällen, dass sich Menschen in gewissen Kreisen und Diskursen Identitäten „ausdenken“, siehe Rachel Dolezal oder Jessica Krug https://www.aljazeera.com/news/2020/9/4/white-professor-who-pretended-to-be-black-admits-faking-identity die sich beide eine schwarte Identität ausgedacht haben um so an bestimmten Diskursen teilnehmen zu können. Klar, ist das „falsch“, es ist peinlich und traurig und ignorant zu tun man wäre jemand, wenn man es ganz klar nicht ist und es in vielerlei Hinsicht einfacher hatte.. aber ich finde Diskussionen ob es „okay“ ist ob man ein so ein Shooting von einem weißen cisman „abfeiern“ darf, begünstigen ja solche Dynamiken.. wenn eine (oftmals von außen zugeschriebene Identität) wichtiger ist und sich Analysen mehr darum dreht als das eigentliche Denken und Handeln..

    Sorry, halber Roman geworden und ich finde den Kommentar auch an sich voll gut, aber beim Lesen sind mir einfach immer wieder diese Punkte in den Kopf geschossen und ich wollte sie gerne teilen..

    • Hey Aysegül,
      es ist interessant zu lesen, wie der Text bei dir angekommen ist. Ich hab ihn beim ersten Mal Lesen tatsächlich innerlich sehr gefeiert, weil in leider wirklich vielen Fällen eine Art ‚Whitewashing‘ entsteht, und Themen erst dann eine große Aufmerksamkeit bekommen, wenn weiße meist Cis Personen involviert sind. Mir fällt da z.B. die Me-Too-Bewegung ein, oder auch der Kampf der Gay-Community in den 70er Jahren, Stichwort Stonewall Riots. Ich weiß nicht, ob du dir schonmal die Rede von Sylvia Rivera von 1973 angehört hast. Darin geht es genau um den Punkt, dass die Arbeit von Martha P. Johnson und Sylvia Rivera quasi unsichtbar gemacht wurde, und vor allem eine weiße Gay-Community davon profitierte. Ich denke, um den Punkt geht es auch so ein bischen Amelie.
      Natürlich ist das wunderbar, dass Harry Styles in einem Kleid zu sehen ist, ich finde auch es steht ihm ganz herrorragend. Aber man sollte doch auch anerkennen, dass er nicht die Gallionsfigur in diesem Bereich ist. Zu dieser wird er aber gemacht. Das hat nichts damit zu tun, dass man, wenn man bestimmte Kriterien nicht erfüllt, nichts mehr zu einem Diskurs beizutragen hat. (Dolezal bsp. hatte da auch noch diverse andere Gründe denke ich, gibt es auch ne sehr spannede Netflix-Doku zu)
      Viele Menschen vor Harry Styles, darunter sehr viele marginalisierte, haben ihm diesen Weg geebnet. Ich finde es wichtig das auch immer wieder zu betonen, weil viele es schlicht und einfach nicht wissen.
      Ich denke nicht, dass Amelie sagen wollte, dass Harry Styles jetzt keine Kleider mehr tragen sollte oder sein Schaffen insgesamt schmälern wollte. Mir gefällt sein Output zum Teil auch sehr sehr gut, und ich bin Fan. Aber wichtig ist immer das gesamte Bild.

      • Das, was du sagst! Danke für eure beiden Kommentare und Blickwinkel, ich finde eure Sichtweisen sehr spannend. Ich selbst hatte nie vor, Harry Styles das Cover oder das Spitzenkleid zu verwehren. Wie Olivia bin auch ich Harry Styles Fan und mag das Cover auf der VOGUE. Das eine schließt jedoch das andere nicht aus. Ich zitiere nochmal einen Satz aus meinem Text, der besonders wichtig in meiner Haltung zu dem Thema ist:

        „Harry Styles, als weißer und nicht-schwuler cis Mann, ist das Endprodukt von etwas, wofür andere gekämpft haben. Er ist nicht der Ursprung des Aufbruchs von Gendernormen. Er ist ein Mann, der das Privileg genießt, endlich Abendroben auf dem VOGUE Cover tragen zu dürfen. Das darf nicht vergessen werden. Trotzdem darf man sich aber freuen. Das Shooting ist fantastisch. Denn das Ziel sollte eine genderneutrale Mode sein, ein echtes Unisex, das in beide Richtungen funktioniert. Dass Harry Styles es aufs VOGUE Cover geschafft hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung.“

        Mir ist wichtig, dass die Herkunft seines Privilegs, Kleider tragen zu können und dafür gefeiert zu werden, herkommt. Freue mich aber trotzdem, dass wir endlich an diesem Punkt angelangt sind.

  2. Liebe Olivia, liebe Amelie,
    danke für eure Antworten. Ich will euch beiden aber in einigen Punkten widersprechen.
    Olivia: Du kritisierst, dass vor allem die weiße Gay-Community vom mutigen Aktivismus nicht-weißer Transfrauen profitierte. Das mag auch sein, aber die Freiheit leben, lieben und anziehen zu dürfen wie man möchte, ist kein „Profit“. Es ist ein grundlegendes Recht für ein freies, autonomes, emanzipiertes Leben.
    Das ist mir auch schon bei Amelie aufgefallen, das was Harry Styles tut, sei angeblich „privilegiert“. Es ist ein Recht. Ein Recht sich ausdrücken zu dürfen wie man mag und dafür keine Gewalt erfahren zu dürfen. Dieses Recht sollte allen zustehen.
    Das kann man so sagen und kann und muss sich gleichzeitig angucken weshalb es manchen Menschen verunmöglicht wird dieses und viele andere Rechte wahrnehmen zu können. Systematischer, institutionalisierter Rassismus, Transphobie, Homophobie, Armut usw. Was aber Texte um angebliche Privilegien machen, ist häufig, dass unter der Hand gestritten wird, wer jetzt das eine schwer erstrittene Stück vom Kuchen haben darf. Natürlich ist es frustrierend, wenn die Solidarität in den eigenen Reihen schwindet. Wenn Menschen geschichtsverdrossen werden, den Mut einer Martha P. Johnson und der anderen, deren Namen wir nicht kennen, in Vergessenheit geraten. Das spricht einen kritischen Punkt in linkem Aktivismus an: Teil linken, emanzipativen Aktivismus muss sein, sich auch mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dafür kann ich herzlich „Gestern Morgen“ der Historikerin Bini Adamzcak empfehlen. Da geht es um das Trauern um die von Stalinisten verratenen oder ermordeten Kommunist*innen und wie man nicht in Apathie verfällt. Es geht quasi darum: wie kann man den Verrat aus den „eigenen Reihen“ betrauern und weiter an einer Idee festhalten?

    Und da kommen wir an einen kritischen Punkt nämlich: Im Spätkapitalismus oder auch Neoliberalismus kann man perfiderweise Geld damit machen in dem man gegen die Gräuel genau dieses Systems kämpft. Der Anti-Kapitalismus ist quasi im System auch vorgesehen, wie sonst kann man sich erklären, wenn ein US Vizepräsidentschaftskandidation Black Lives Matter proklamieren kann oder ein Magazin wie Vogue was wirklich für alles andere als für eine scharfe Kritik am Status Quo bekannt ist, ein Shooting wie das mit Harry Styles macht. Euch fallen bestimmt noch andere Beispiele an, zB wenn H&M Menschenrechtskampagnen macht, obwohl die eigenen Produktsionsbedingungen im globalen Süden der moderner Sklaverei ähneln. Weil im Neoliberalismus die Kritik am Kapitalismus oder an Heteronormativität, dem Patrichat etc mittlerweile verkauft werden kann, streiten sich die Leute, wem dieser Mehrwert *eigentlich* zusteht (wer eben auf dem Vogue Cover posieren darf), anstatt einfach mal zu sagen: das RECHT um das es hier eigentlich geht steht jedem zu. Es ist paradox und fast unverständlich: in manchen Teilen dieser Welt riskieren Menschen ihr Leben, ihre Freiheit für grundlegende Rechte und manchmal selbst an genau den selben Orten werden wiederum Menschen zu Galionsfiguren jener Bewegungen, verkaufen Bücher, T-Shirts, geben Ted-Talks, sind hauptberuflich Aktivist*in. Die ersten sind dann irgendwie die „richtigen“, die zweiten sind irgendwie „faul“, zwar auch wichtig und richtig aber irgendwie eben nicht ganz passend. Und natürlich ist es das, so ein Vogue Cover ist ein einziger Widerspruch. Aber anstatt diesem Widerspruch auf die Schliche zu kommen, wozu es einer Analyse der Verwebung des Neoliberalismus und Anti-Kapitalistischer Kämpfe geben müsste, gehen wir dem Widerspruch auf den Leim. Dann wird mehr darüber gestritten ob Greta Thunberg nun die Galionsfigur des Klimaaktivsmus werden darf, obwohl sie aus dem globalen Norden kommt blabla „insert random privilege here“ anstatt über die Klimakrise zu sprechen. Wenn wir uns mal weg von den Personen bewegen würden und uns die Argumente, die Kritik anschauen würden, wäre der Erkenntnissgewinn um einiges größer, meiner Meinung nach. (Hier kurze Empfehlung für „Capitalist Realism“ von Mark Fisher, eine pointierte Bestandsaufnahme des Neoliberalismus).

    Olivia, du sprichst von einer „Galionsfigur“ zu der Styles zu unrecht gemacht wird. Dem würde ich entgegnen: Ja genau, nieder mit sämtlichen Galionsfiguren. Was ist aus der Parole „Kill your Idols“ geworden? Als brauche es eine saubere, passende, „authentische“ Galionsfiguren um einer guten, gerechten Sache einen moralisch hohen Grund zu geben. Wenn ich heute mein Wahlrecht wahrnehme oder mich einfach als politisches Subjekt, als Bürgerin begreife, muss ich mich dann auch den Suffragetten dankbar zeigen? Wenn ja, wie häufig am Tag? Oder wenn ich eine Abtreibung in Erwägung ziehe? Natürlich interessieren mich die Vordenker*innen, aber nicht aus einem konservativen und reakitonären „Ehre deine Ahnen“-Modus heraus, sondern weil mich ihre Stärke, ihr Mut, ihr scharfer Intellekt inspiriert und es mir hilft mich selbst in eine Kontinuität subversiver Kämpfe zu verorten. Außerdem kann man auch heute noch von den Analysen und Kämpfen von Vorgänger*innen lernen. Unsere Generation hat das Rad nicht neu erfunden. Trotzdem finde ich es einen ganz komischen Blick auf sich selbst, sich als reines ideelles Produkt der Kämpfe und der Kritik, die vor mir stattgefunden haben zu sehen. Wir drei würden bestimmt auch eine Kritik an den Zuständen verfassen, hätte es vorher keine breiten feministischen Bewegungen gegeben. Eben weil wir alle drei vernunftbegabte, intelligente Wesen sind, die sich selbst und ihre Gesellschaft kritisch wahrnehmen und daraus Schlüsse für ihr Denken und Handeln ziehen.
    Wenn Emma Goldman hören würde wie manche Feministinnen über das „Privileg“ wählen zu dürfen, das „Privileg“ Hosen oder kurze Röcke anziehen zu dürfen, sprechen, sie würde sich für unsere Generation bestimmt ein bisschen schämen und wahrscheinlich sagen, dass man mit diesem Mädchenhaften Dankbarkeits-Modus aufhören und endlich auf die Barrikaden gehen sollte. Seinen Blick nicht immer auf sich selbst richten, sondern gerade den auf die Gesellschaft und den unmöglichen Zuständen schärfen sollte.

    Ich empfehle euch beiden folgenden Artikel um den Begriff Privilege aber auch den Modus in dem momentan Gerechtigkeitsdebatten geführt werden: https://jungle.world/artikel/2020/30/der-blinde-fleck-der-gerechtigkeitsdebatte

    Anyways, danke für den anregenden Austausch! <3

    • Hallo an euch beide!
      Wow, mit diesem Austausch hätte ich jetzt nicht gerechnet. Danke Aysegül für deine weiteren Ausführungen.
      Ich kann dir in deiner Argumentation durchaus folgen, aber für mich ergeben sich trotzdem folgende Fragen:
      Du schreibst: ‚Du kritisierst, dass vor allem die weiße Gay-Community vom mutigen Aktivismus nicht-weißer Transfrauen profitierte. Das mag auch sein, aber die Freiheit leben, lieben und anziehen zu dürfen wie man möchte, ist kein „Profit“. Es ist ein grundlegendes Recht für ein freies, autonomes, emanzipiertes Leben.‘
      Ich stimme dir natürlich zu, dass es ein grundlegendes Recht ist. Profitiert ist in dem Rahmen vlt nicht das richtige Wort. Vlt aber doch, wenn man bedenkt, dass immer noch beispielsweise schwarze Transfrauen überproportional von Armut und Wohnungslosigkeit betroffen ist.
      Ich denke, der wichtige Punkt und die Grundlage hierfür bildet immer noch das rassistische System in welchem wir leben, und das wird mir in dieser Diskusion gerade zu sehr ausgeklammert.
      Natürlich sollte es allen zustehen, sich ausdrücken zu dürfen wie man mag und dafür keine Gewalt zu erfahren. Dass man aber keine Gewalt dafür erfährt, hat mitunter etwas mit Privilegien zu tun. Entweder mit dem Privileg in unserer Gesellschaft weiß zu sein, oder norm-schön oder zumindest nicht bettelarm.
      Das hat für mich ertsmal nichts mit verdient oder unverdient zu tun.

      Ich denke Amelies Artikel sagt mit keinem Wort: Harry Styles hat nicht das recht auf diesem Vogue Cover zu stehen. Natürlich hat er das. Für mich hat der Text aber vor allem auf das Problem des ‚White Washing‘ hingewiesen, das dazu führt, dass die Vorreiter (und das sind überraschenderweise sehr häufig BIPOC’s , wenn wir jetzt bei Mode und Musik usw bleiben) unsichtbar gemacht werden und eben kein Stück vom Kuchen abbekommen. Und um diesen geht es aber leider. Das bedingt das System in welchem jeder ein Stück vom Kuchen abbekommen sollte, um zu überleben. Warum können wir den nicht beides? Harry Styles feiern und trotzdem über die Strukturen sprechen, die dazu führen, dass vor allem jemand wie er auf dem Cover landet?
      Das Wort ‚Privileg‘ wie es scheinbar rechte Gruppierungen für sich auf Twitter in Anspruch nehmen, scheint ja vor allem auf jüdische Eigentumsverhältnisse abzuzielen. Wenn ich das richtig herausgelesen habe. Was ja von der Grundannahme her schon falsch für mich ist. Denn wenn wir von Privilegien sprechen, dann meint es, dass nur eine bestimmte Gruppe ein Recht hat, was eigtl allen zu steht, zum Beispiel körperliche Unversertheit. Dies hat mitunter aber nichts mit den Eigentumsverhältnissen dieser Gruppe zu tun. Wäre das nicht dieselbe Argumentation, wie wenn man #Blacklivesmatter nicht mehr nutzen sollte, weil daraus ein #bluelivesmatter gemacht wird?

      Du schreibst ‚Natürlich interessieren mich die Vordenker*innen, aber nicht aus einem konservativen und reakitonären „Ehre deine Ahnen“-Modus heraus, sondern weil mich ihre Stärke, ihr Mut, ihr scharfer Intellekt inspiriert und es mir hilft mich selbst in eine Kontinuität subversiver Kämpfe zu verorten.‘ Ich bin auch gegen diese Art des Personenkults, aber wenn ich Martha P. Johnson und andere Personen anführe, dann möchte dass ihre Stärke und ihr Mut eben nicht unsichtbar gemacht werden.
      Zumindest sollte man wissen, dass es Vorkämpferinen wie die Suffragetten gegeben hat, und die Möglichkeiten, die man hat um aktivistisch zu sein, nicht schon immer da waren. Das kann man auch tun, ohne in einen konservativen und reaktionären Personenkult zu verfallen.

      Abschließend denke ich natürlich auch, dass das Cover der Vogue nicht unser Battleground sein sollte und wir uns nicht an Harry Styley abarbeiten sollten, sondern den dahinterliegenden Strukturen widmen. :)
      Take care! <3

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