Ist das schon Magie oder noch Chaos? Wieso Neuanfänge so kompliziert sind

30. Mai 2023 von in

Nach 14 Jahren unzähliger Neustarts im Job, in Beziehungen, Städten und Wohnorten hat die 33-jährige Kim das Gefühl, erst jetzt so richtig anzufangen mit dem Leben und sich selbst erst jetzt so richtig zu finden. Damit ordnet sich ihr Leben gerade – wieder einmal – völlig neu, was aufregend und gleichzeitig beängstigend ist, weil so viel auf einmal passiert. Wenn sie auf die letzten Jahre zurückblickt, sieht sie in ihrem Leben viel Chaos, aber auch den unermüdlichen Optimismus, in allen Lebenslagen weiter vertrauen, es weiter zu versuchen und auf die eigene Intuition zu hören.
Besonders wichtig findet Kim es, der inneren Stimme und dem Leben zu vertrauen, wenn man vermeintlich gescheitert ist – nach Trennungen oder bei anderen Neustarts auf dem Weg, der vor einem liegt. Kim schreibt eine monatliche Kolumne bei This is a Fem’s World und schreibt außerdem auf ihrem eigenen Blog Kimskolumne. Heute schreibt sie auf amazed über die ambivalenten Gefühle eines Neuanfangs.

Vor einigen Monaten habe ich das Leben nach einem Neuanfang gefragt, es sozusagen förmlich angebettelt, die Dinge mögen sich bitte ändern. Ich hatte eine ziemlich gute Idee von dem, was ich mir zukünftig wünsche. Und vor allem war mir eins klar: So, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben.

Die gute Nachricht: das Leben hat zugehört, besonders beim letzten Part. Die nicht so schöne Nachricht: Statt mich zu freuen, weine ich mir seit Wochen die Augen wund. Klar, ich wollte Veränderung, aber dieses Ausmaß war dann doch nicht geplant. Denn statt mir einen smoothen Neustart mit den guten, neuen Dingen zu geben, von denen ich geträumt habe, hat es das Leben dieses Mal etwas anders mit meiner Veränderung gemeint: nicht nur, dass ich meine wichtigsten Aufträge als Freiberuflerin verloren habe, nein, zusätzlich durfte ich auch noch die Beziehung mit dem Mann beenden, dem ich vor drei Monaten noch eine zweite Chance gegeben habe und für den ich letztendlich bis nach Kanada geflogen bin.

Kurz gesagt: Egal, wie lange wir schon über Veränderungen nachgedacht haben – wenn es dann passiert, kommt es irgendwie doch immer zu plötzlich.
Wir haben das Gefühl, noch nicht bereit zu sein.

Kopf vs. Realität vs. Herz

Dabei ist die Vorstellung von einem Neuanfang im Kopf immer dieselbe, zumindest bei mir.
Ich treffe die Entscheidung, mein Leben zu verändern, und dann steht plötzlich die neue Realität vor mir. Wie eine unbeschriebene Seite im Notizbuch. Doch leider laufen Veränderungen in der Realität dann doch nicht ganz so sauber ab, wie eine neue Seite im Notizbuch aufzuschlagen.

Neuanfänge sind ein chaotischer Prozess, ein Durcheinander zwischen Herz und Kopf, das wir nicht kontrollieren können. Wenn wir einmal in der Veränderung sind, gibt es kein Zurück mehr. Es ist der Schwebezustand zwischen Neu und Alt, in dem das Alte noch nicht gegangen, das Neue aber noch nicht richtig greifbar ist. Wir können weder vor noch zurück, und in diesem Raum fällt es uns schwer, zu begreifen, was zum Teufel wir da angeleiert haben. Also versuchen wir mit aller Macht, zu verstehen.

Über die Hoffnung, glücklicher zu sein als bisher

Ich glaube, das ist genau der Fehler, den viele von uns zu oft machen: Wir wollen den Neuanfang, aber nur zu unseren Bedingungen. Denn mal ehrlich, wem gefällt die Vorstellung nicht, von jetzt auf gleich ganz „neu“ zu beginnen? Die Chance darauf, uns noch einmal neu zu erfinden, wieder Raum zum Ausprobieren zu haben, uns von allem zu befreien, das uns einengt. Wir möchten von jetzt auf gleich glücklicher sein als zuvor, wir fordern eine Garantie für jede Entscheidung, die wir treffen.

Doch werden wir je wieder etwas Neues finden, das sich nur halb so gut anfühlt, wenn wir die jetzige Beziehung beenden? Werden wir einen besseren Job mit tollen KollegInnen, fairem Gehalt und genauso viel Spaß in den Pausen finden? Wäre doch toll, wenn es eine Art Testphase für Neuanfänge gäbe. In der wir ausprobieren können, ob wir den Neuanfang wirklich wollen, und in welchen Bereichen lieber nicht.

Dabei bedeutet Neuanfang eben nicht, erstmal in die Testphase zu gehen. Ein Neuanfang bedeutet vor allem, dass wir zuerst loslassen müssen.

Loslassen von Situationen, Menschen und Vorstellungen, die uns lange lieb waren.
Und was bleibt, wenn wir Träume loslassen, die wir jahrelang in uns getragen haben, die aber gar nicht mehr unserem jetzigen Ich entsprechen? Nichts als Ungewissheit.

Wir haben die Wahl zwischen Vertrautem und Ungewissheit

Es fühlt sich nicht gut an, in etwas Unbekanntes hineinzulaufen, mit nichts, an dem wir uns festhalten können. Deshalb suchen wir nach Ankern, meist in unserer Vergangenheit.
Selbst die Dinge, die uns vorher genervt haben, erscheinen im Licht des bevorstehenden Unbekannten gar nicht mehr so schlimm: die geschwätzige Kollegin, der wir immer an der Kaffeemaschine aus dem Weg gegangen sind, scheint plötzlich ganz liebenswert. Die nervige Angewohnheit unserer PartnerInnen, die Wäsche auf dem Badezimmerboden liegen zu lassen, hinterlässt auf einmal ein Lächeln auf unserem Gesicht. Alles, was war, kann nur besser sein als das, was kommt, glauben wir plötzlich.

Im Chaos des Loslösungsprozesses fragen wir uns dann, was wir hätten tun können, um die bevorstehende Veränderung zu vermeiden, um noch zu retten, was zu retten ist. Wieso haben wir unsere Situation nicht einfach mehr wertgeschätzt? Hätten wir es nicht nur ein bisschen mehr versuchen müssen, uns etwas mehr anstrengen, um den Job, die Beziehung oder die Freundschaft zu retten? Vielleicht wäre es dann nicht nötig gewesen, mit ausgestreckten Armen und verbundenen Augen direkt in die Dunkelheit zu taumeln.

Wir fragen das Leben nach Veränderung, nach Wachstum. Aber können dann nicht damit umgehen, wenn es alle bisherigen Strukturen auseinanderreißt, um uns genau diese Veränderung zu geben, weil uns das große, ganze Bild fehlt.

Wahrscheinlich verändern wir bei Neuanfängen auch deshalb so oft mit Vorliebe etwas an unserem Äußeren. Ein neuer Haarschnitt, ein neuer Stil, neue Tattoos, neue Deko.
Die äußerlichen Veränderungen sind Indikatoren, die nach Außen signalisieren: „Hey, hier verändert sich etwas, ich bin nicht mehr die Alte“. Gleichzeitig ist es auch der Versuch, in diesem Prozess der Ungewissheit etwas zu haben, über das wir noch Kontrolle ausüben.

Die Magie liegt in der…Verwirrung?

Dabei ist doch gerade die Ungewissheit, dieser Schwebezustand, das Magische an Neuanfängen.

Wenn wir nicht wissen, was passiert, können wir uns auch endlich wieder überraschen lassen. Ist es nicht ein wunderbares Gefühl der Freiheit, sagen zu können: „Ich weiß nicht, was kommt – aber ich vertraue vollkommen, dass es genau das Richtige für mich ist“? Klar, wenn da nicht die Stimmen der anderen wären, unserer Familie und Freunde, die uns sanft und eindringlich fragen, wieso wir denn überhaupt Veränderung brauchen. Wovor wir flüchten und ob wir denn nicht langsam endlich ankommen wollen im Leben?

Als ich einer Freundin kürzlich von meinem Wunsch nach radikaler Veränderung und der damit einhergehenden Angst und dem inneren Chaos erzählt habe, war ihre Antwort, ich würde mir nur unnötig wehtun, denn ich hätte noch überhaupt gar nicht versucht, in meiner aktuellen Situation glücklich zu sein.

Und schon ploppt sie hoch wie ein Wasserball, den ich zu lange unter die Oberfläche gedrückt habe, die große Frage, ob das alles wirklich so richtig ist, was ich hier mache.
Denn sie hat ja Recht damit, dass irgendwann auch das aufregende Neue zur Gewohnheit wird, das alltägliche Treiben sich einstellt. Was dann? Fangen wir einfach so lange wieder neu an, bis wir das vermeintlich „Richtige“ gefunden haben? Bis nichts Alltägliches überbleibt?

Woher wissen wir, wann es Zeit ist, Neues anzugehen, wann wir grundlos an etwas festhalten, was nicht mehr zu retten ist, und wann wir andererseits nur Luftschlösser bauen?

Wo ein Impuls ist, da können wir nicht falsch liegen. Oder?

Ich habe schon unzählige Neuanfänge durchlebt, aber das ist bis heute eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Vielleicht ist sie auch gar nicht zu beantworten. Weil Dinge wie diese nicht so einfach zu trennen sind, genauso wenig, wie wir Vorfreude und Abschiedsschmerz trennen können. Die Grenzen dieser Gefühle verwischen, wir können nicht mehr genau sagen, was richtig ist und was nicht, weil die Vorfreude mit Hoffnung, Traurigkeit und Bedauern verschmilzt.

Eines aber weiß ich sicher: Wenn wir schon über einen Neuanfang nachdenken, egal, wie groß, klein, radikal oder moderat er auch sein mag, dann ist das meist ein Zeichen, dass etwas in uns sich nach Veränderung sehnt. Auch, wenn wir es nicht rational erklären können.
Rückblickend sind es genau diese Impulse, aus denen meine besten Entscheidungen entstanden sind – immer dann, wenn ich dem leisen Ruf nach „mehr“ gefolgt bin.
Ohne zu wissen oder erklären zu können, wie dieses „mehr“ aussieht.

Was meine aktuelle Situation betrifft: es mag alles anders laufen als geplant, aber im Grunde weiß ich, dass mich jeder Schritt immer ein Stückchen weiter zu mir selbst bringt – egal, wie weh es tut.

Eigentlich ist der Name „Neuanfang“ ohnehin irreführend. Denn wir starten nie von Null. Wir starten immer auf dem Level der Erfahrungen, die wir bis hierher gesammelt haben, weil jede noch so kleine Begegnung und Begebenheit uns zu der Person gemacht hat, die wir heute sind.

An eines glaube ich dabei fest: Im schlimmsten Chaos entsteht gleichzeitig der größte Raum für Magie. Und das Risiko ist es doch wert, oder?

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